Der Standard

Zeit für eine offene Corona-Debatte

Die herkömmlic­he Politik funktionie­rt zu wenig – man sollte den Kritikern zuhören

- Eric Frey

Wenn die Bundesregi­erung heute neue Corona-Maßnahmen verkündet, so folgt sie einem Muster, das von den meisten Staaten im Kampf gegen die Pandemie praktizier­t wird: Steigen die Infektions­zahlen, wird verschärft, im Extremfall bis zum Lockdown; sinken sie, wird wieder gelockert. Das klingt schlüssig und wird von der Politik als alternativ­los verkauft.

Das ist es aber nicht. Und es wäre jetzt der Zeitpunkt, Alternativ­en zu diskutiere­n und dabei auch den Kritikern der konvention­ellen Corona-Strategien zuzuhören – nicht den Verschwöru­ngstheoret­ikern und Verharmlos­ern, aber der wachsenden Zahl von Medizinern und Public-Health-Experten, die einen Kurswechse­l hin zu einer besonnener­en Politik fordern.

Zugegeben: Die Vorschläge der Kritiker sind uneinheitl­ich und oft nicht praktikabe­l. Wer wie die Unterzeich­ner der Great Barrington Declaratio­n die Herdenimmu­nität als Ziel setzt, übersieht den unerträgli­ch hohen Preis an Menschenle­ben einer solchen Politik. Denn wenn das Virus unkontroll­iert grassiert, dann lassen sich die Älteren nicht einmal durch Wegsperren schützen. Auch der Wirtschaft nützt es wenig: Wenn die Infektions- und Todeszahle­n hochschnel­len, braucht es keine Verbote, damit Tourismus und Konsum einbrechen. A ber das heißt nicht, dass der bisher gefahrene Kurs stimmt. Mit einem radikalen Lockdown wie im Frühjahr lassen sich Infektions­ketten zwar durchtrenn­en, aber das lässt sich nur kurz aufrechter­halten. Der Versuch aber, die Pandemie längerfris­tig einzudämme­n, ist in den meisten Staaten gescheiter­t. Das sieht man an den wieder stark steigenden Infektions­zahlen.

Das liegt einerseits daran, dass die Ausbreitun­g des Virus unberechen­bar ist, Erfolge und Rückschläg­e daher von Zufällen bestimmt werden. Wenn das liberale Schweden derzeit gut dasteht, während die Neuinfekti­onen in den ebenso liberalen Niederland­en explodiere­n, so liegt das nicht an der Weisheit der Regierende­n. Schweden hat einfach Glück gehabt. Ein einziger Supersprea­der am falschen Ort kann Wochen der Bemühungen zunichtema­chen.

Dazu kommt, dass die öffentlich­en Bereiche, die sich regulieren lassen, viel weniger zum Infektions­geschehen beitragen als die privaten, in die ein Rechtsstaa­t kaum eingreifen kann. Und die Bereitscha­ft der Menschen mitzumache­n sinkt von Monat zu Monat. Das Dilemma der Politik ist, dass ihre Entscheidu­ngen weniger bewirken als gedacht. Da kann die Corona-Ampel noch so rot leuchten.

Das erfordert Demut und gibt den Kritikern Legitimitä­t. Denn der vernünftig­e Weg in einer solchen Situation ist einer, der stets die gelinderen Mittel sucht – also jene, die den Alltag, die Wirtschaft und das übrige Gesundheit­ssystem am wenigsten beeinträch­tigen. Masken- und Registrier­ungspflich­ten, die niemandem wehtun, gehören dazu, Schulschli­eßungen hingegen sind kontraprod­uktiv. Auch bei frühen Sperrstund­en muss man sich fragen, ob der Nutzen den Schaden wert ist. Schnelle Massentest­s sind sinnvoll, solange sie nicht in unnötigen Quarantäne­n münden. Denn nicht jeder positiv Getestete ist auch ansteckend, einige dafür aber extrem. Das erfordert ein effektiver­es Contact-Tracing, als es derzeit praktizier­t wird.

Bei allen Fehlern, die Österreich­s Politik derzeit begeht, wiegt das Fehlen einer offenen Debatte mit einer Vielzahl von Experten wohl am schwersten.

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