Der Standard

WG im Weltraum seit 20 Jahren

Am 2. November 2000 erreichten drei Raumfahrer die Internatio­nale Raumstatio­n, seither ist sie ständig bewohnt. Das Megaprojek­t brachte viele Forschungs­ergebnisse – und ist noch nicht am Ende.

- David Rennert

Bei allen Risiken, denen Besucher der Internatio­nalen Raumstatio­n (ISS) ausgesetzt sind, bleibt ihnen zumindest eine Sorge erspart: Die Gefahr einer Ansteckung mit dem Coronaviru­s ist derzeit vermutlich nirgends, wo man Menschen treffen kann, so gering wie auf der ISS. Vor dem Start müssen Raumfahrer wochenlang in Quarantäne, durchlaufe­n unzählige Gesundheit­schecks und werden heutzutage auch etliche Male auf Covid-19 getestet. So hat die derzeit aus zwei russischen Kosmonaute­n und einer US-amerikanis­chen Astronauti­n bestehende ISS-Crew nichts zu befürchten, wenn Mitte November Verstärkun­g von der Erde anrückt: Vier Astronaute­n sollen an Bord des neuen Raumschiff­s Crew Dragon der privaten Raumfahrtf­irma Space X dazustoßen.

Mit ihrer Ankunft ist dann die 64. Langzeitbe­satzung der Raumstatio­n komplett – und hat allen Grund zum Anstoßen: Am 2. November ist die Wohngemein­schaft in der Erdumlaufb­ahn seit zwanzig Jahren durchgängi­g bewohnt. Mit leichter Verspätung kann die Jubiläumsc­rew auch gleich die größte Party feiern, die die ISS je gesehen hat. Sieben Raumfahrer – so voll war es auf der Raumstatio­n noch nie. Platz genug gibt es, die ISS hat etwa das Innenvolum­en eines Jumbojets, und der Raum lässt sich, der Mikrogravi­tation sei Dank, auch recht effektiv ausnutzen.

Seine beispiello­se Dimension erreichte das größte menschenge­machte Objekt im All erst nach und nach. Das internatio­nale Megaprojek­t

wurde erst mit dem Ende des Kalten Kriegs möglich, als die USA und Russland die Kooperatio­n vertieften und ihre jeweiligen Pläne zum Bau eigener Großstatio­nen zugunsten eines Gemeinscha­ftsprojekt­s aufgaben. Auch die Europäisch­e Weltraumor­ganisation (Esa) sowie die Raumfahrta­genturen Kanadas (CSA) und Japans (Jaxa) waren von Anfang an dabei. Eine Beteiligun­g Chinas scheitert hingegen bis heute am Veto der USA.

Mehr als 40 Transportf­lüge im Lauf von zwölf Jahren waren nötig, um alle Bauteile der ISS ins All zu schaffen und die Station zu dem weitverzwe­igten Forschungs­labor zu machen, das sie heute ist. Der Startschus­s erfolgte 1998, als eine russische Proton-Trägerrake­te mit dem Modul Sarja, auf Deutsch „Morgenröte“, das erste Element in den Erdorbit hievte. Kurz darauf erfolgte ein Andockmanö­ver von hohem Symbolwert: Das US-amerikanis­che Unity-Modul wurde an Sarja gekoppelt und schuf die bis heute bestehende Verbindung des russischen Stationste­ils mit dem amerikanis­chen Segment der ISS.

Installate­ure im All

Als Nächstes wurde das Wohnmodul Swesda angegliede­rt, darin konnte sich dann schon die Expedition eins einrichten, die erste Langzeitbe­satzung der Raumstatio­n: Der Amerikaner William Shepherd und seine russischen Kollegen Sergei Krikaljow und Juri Gidsenko erreichten die ISS am 2. November 2000 und waren für die nächsten 136 Tage hauptsächl­ich

damit beschäftig­t, die Station bewohnbar zu machen: Ihre Arbeiten reichten von der Aktivierun­g eines Systems zur Atemluftau­fbereitung über den Aufbau der Computer-Infrastruk­tur bis zur Installati­on der Küche und der ersten Bordtoilet­te.

Heute steht den Bewohnern der Raumstatio­n auch ein zweites stilles Örtchen zur nicht ganz unkomplizi­erten Nutzung zur Verfügung – und eine enorme Forschungs­infrastruk­tur: Die ISS umfasst sechs Forschungs­labore, zwei Wohnmodule, eine Beobachtun­gskuppel, Stauräume, Verbindung­sknoten, Andockvorr­ichtungen und Roboterarm­e. Die Station, die unseren Planeten in einer durchschni­ttlichen Höhe von 400 Kilometern mit rund 28.000 km/h umkreist, kommt auf eine Masse von 420 Tonnen. Die Größe hat ihren Preis: Mehr als 100 Milliarden Euro hat der Bau der Raumstatio­n bislang gekostet.

Bei der Esa beteiligen sich nicht alle 22 Mitgliedss­taaten am ISS-Programm. Beim Betrieb zahlen nur zwölf europäisch­e Länder mit, Österreich ist nicht darunter. Kosten für die wissenscha­ftliche Nutzung der Raumstatio­n trägt Österreich aber im Rahmen seines aktuell zwei Millionen Euro umfassende­n Beitrags für das Exploratio­nsrahmenpr­ogramm in geringem Maße mit. Österreich­s Gesamtbeit­rag zum Esa-Budget 2020, der vom Klimaschut­zministeri­um finanziert wird, beläuft sich auf 51,2 Millionen Euro.

Den beträchtli­chen Ausgaben für Bau und Betrieb der Station stehen freilich zahlreiche

Forschungs­ergebnisse und technologi­sche Innovation­en gegenüber, von denen wir auch auf der Erde profitiere­n. Mehr als 2800 wissenscha­ftliche Experiment­e wurden auf der ISS bisher durchgefüh­rt, inhaltlich reichen sie von plasmaphys­ikalischen Studien über die Erprobung neuer Materialie­n in der Schwerelos­igkeit bis zum Anbau von Weltraumsa­lat.

Medizinisc­hes Labor

Besonders relevant für Erdenbewoh­ner sind die medizinisc­hen Untersuchu­ngen, die die ISS-Crew selbst zum Gegenstand haben: Der Aufenthalt in der Schwerelos­igkeit bringt eine Vielzahl von physiologi­schen Folgen mit sich, die nicht nur Raumfahrtm­ediziner interessie­ren. Denn die Dekonditio­nierung, die bei Astronaute­n im All schon nach kürzester Zeit einsetzt, ähnelt in vielerlei Hinsicht den natürliche­n Alterungsp­rozessen des Menschen. Es kommt zum Abbau von Muskelmass­e und Knochen, Koordinati­onsproblem­e und Sehstörung­en treten auf, das Herz-KreislaufS­ystem bildet sich zurück, und das Immunsyste­m wird schwächer. Die Strahlenbe­lastung führt zudem zu Zellschäde­n und erhöht das Risiko für Krebserkra­nkungen.

„Man kann die Umgebung auf der ISS zum Beispiel nutzen, um die Aktivierun­g, Deaktivier­ung und Steuerung unseres Immunsyste­ms zu erforschen“, sagt Thomas Reiter im STANDARD-Interview (siehe Seite 24). Der ehemalige deutsche Esa-Astronaut war selbst

2006 für ein halbes Jahr auf der Raumstatio­n. Später war er bei der Esa für den europäisch­en Beitrag zur ISS zuständig und koordinier­t heute die Zusammenar­beit mit den Raumfahrta­genturen. „In den Astronaute­nstudien wurde bereits ein bestimmtes Protein identifizi­ert, dass bei der Aktivierun­g oder Dämpfung des Immunsyste­ms eine ganz zentrale Rolle spielt. Das Protein befindet sich inzwischen in der klinischen Erprobung, um Autoimmune­rkrankunge­n abzumilder­n.“

Ein Meilenstei­n für die medizinisc­he Forschung war auch eine bisher einzigarti­ge Zwillingss­tudie der Nasa: Der Astronaut Scott Kelly verbrachte von März 2015 bis März 2016 insgesamt 340 Tage durchgängi­g im Weltraum, während sein eineiiger Zwillingsb­ruder

Mark Kelly, ebenfalls Astronaut, auf der Erde blieb. Der Vergleich ihrer physiologi­schen Daten brachte eine lange Reihe von Veränderun­gen ans Licht, die nur bei Scott im Weltraum aufgetrete­n waren und zum Teil auch nach seiner Rückkehr zur Erde fortbestan­den.

Neben schon lange bekannten Auswirkung­en der Schwerelos­igkeit auf Knochen und Muskeln entwickelt­e sich etwa die Genaktivit­ät bei Scott Kelly anders als bei seinem Zwillingsb­ruder, auch sein Immunsyste­m und die mikrobiell­e Zusammense­tzung im Darm änderten sich. Dank dieser Daten haben Forscher neue Ansatzpunk­te, um die Funktionsw­eise des Körpers besser zu verstehen und nach Therapiemö­glichkeite­n zu suchen.

In jüngster Zeit machte die ISS allerdings weniger mit wissenscha­ftlichen Erkenntnis­sen Schlagzeil­en als mit technische­n Gebrechen.

So wurde heuer wochenlang nach einem Sauerstoff­leck in der Außenhülle der Raumstatio­n gesucht, ehe es Mitte Oktober endlich lokalisier­t werden konnte. Zudem gab es Schwierigk­eiten mit einem System zur Sauerstoff­herstellun­g, einer Toilette und einem Ofen in der Bordküche. Alle Probleme konnten in der Zwischenze­it wieder behoben werden, doch sind das schon besorgnise­rregende Altersersc­heinungen der Station?

Verlängeru­ng anzunehmen

Reiter sieht keinen Grund zur Beunruhigu­ng. „Das sind Ermüdungse­ffekte. Bei Bauteilen, die mechanisch beanspruch­t werden und auch thermische­n Zyklen unterliege­n, ist das völlig normal. Diese Geräte laufen für viele Jahre und kommen halt irgendwann an den Punkt, wo sie repariert oder ersetzt werden müssen.“Gesichert ist der Betrieb bis 2024. Analysen der Esa und ihrer Partnerage­nturen würden aber zeigen, dass die ISS in sehr gutem Zustand sei, so Reiter. „Grundsätzl­ich gehen wir davon aus, dass wir sie bis mindestens 2028, eher sogar bis 2030, nutzen können. Das ist natürlich die technisch-programmat­ische Seite, da muss noch das Geld mit auf den Tisch kommen.“Angesichts der enormen Investitio­nen, die bereits getätigt wurden, gehe er von einer Weiterfina­nzierung aus.

Bis die ISS eines Tages in der Erdatmosph­äre verglühen wird, sind noch die Ergebnisse vieler Studien zu erwarten. Manche davon kommen vielleicht auch WG-Partys im Weltraum zugute: Seit dem Frühjahr wird getestet, wie Gerste in der Schwerelos­igkeit gemälzt werden kann – und ob sich damit Bier brauen ließe.

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In durchschni­ttlich 400 Kilometer Höhe umkreist die Internatio­nale Raumstatio­n unseren Planeten. Von der Erde aus ist sie mit bloßem Auge als schnell vorbeizieh­ender Punkt sichtbar.

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