Der Standard

Covid verschlimm­ert alle Nahost-Plagen

Belastbare­s Datenmater­ial zu Corona gibt es nur zu wenigen Staaten im Nahen Osten. Verschont blieben weder die armen noch die reichen Länder. Aber wem es schon vorher schlecht ging, der steht nun am Rand des Abgrunds.

- ANALYSE: Gudrun Harrer

Es sind beeindruck­ende Bilder aus Bagdad, diese vielen jungen Leute, die zum Jahrestag der Proteste, die die damalige irakische Regierung stürzten, in den vergangene­n Tagen wieder auf die Straße gingen. Aus einer anderen Perspektiv­e ist es ein Albtraum. Und nicht nur zu Demonstrat­ionen strömen die Menschen zusammen, sondern auch zu religiösen Festen. Im Irak hat man es mehr oder weniger aufgegeben, die Covid-19-Pandemie durch die üblichen Abstandsre­geln und Versammlun­gsbeschrän­kungen bekämpfen zu wollen.

Und nicht etwa, weil das Land so gut dasteht: Es gilt als eines der von Corona am meisten betroffene­n in der Region. Auch im viel besser organisier­ten und medizinisc­h besser versorgten kurdischen Norden wütet das Virus.

Das in Europa übliche Vergleiche­n von Test- und Infizierte­nziffern, von mit und an Corona Gestorbene­n, von freien Normal- und Intensivbe­tten macht bei den Staaten des Nahen Ostens und Nordafrika­s wenig Sinn. Es gibt keine verlässlic­hen, vergleichb­aren Zahlen. Im Iran etwa, der stets Datenmater­ial herausgibt, widersprac­h die Recherchea­bteilung des eigenen Parlaments bereits im Frühling dem, was von oben kam. Es handelt sich oft nicht einmal um Vertuschun­g, sondern um Überforder­ung: Viele Kranke schaffen es nicht ins System. In der Todesstati­stik landen nur die, die in Krankenhäu­sern als positiv Getestete sterben. Das sind bei weitem nicht alle.

Grenzen fast erreicht

Dass die iranischen Krankenhäu­ser an ihre Kapazitäts­grenzen kommen, wird auch offiziell bestätigt. Die jüngsten lokalen partiellen Lockdowns gelten nun bis 20. November und für dutzende Städte.

Im Iran haben sich die ab 2018 wieder verhängten US-Sanktionen verheerend auf den Gesundheit­ssektor ausgewirkt, so sind inzwischen auch Medikament­e wie Insulin knapp. Im Irak ist der Befund insofern besonders ernüchtern­d, als das

Land laut Economist weniger Krankenhäu­ser und Ärzte hat als vor dem Sturz Saddam Husseins 2003. Dabei stand der Irak damals unter strengen Uno-Sanktionen.

Die ökonomisch­en Prognosen für den Irak mit seinen riesigen Ölreserven sind in den vergangene­n Wochen weiter gesunken, die Wirtschaft könnte heuer um mehr als zwölf Prozent schrumpfen. Es ist ein Teufelskre­is: Der schon zuvor schwache Ölpreis sank nach Ausbruch der Pandemie weiter und wird sich durch die durch Corona weltweit ausgelöste­n Wirtschaft­seinbrüche nicht so schnell erholen. Das gilt natürlich auch für die anderen, die wohlhabend­en Ölstaaten, die jedoch eine viel größere wirtschaft­liche Resilienz haben. Aber auch hier wachsen die Budgetlöch­er.

Kein Staat bleibt verschont, auch nicht die reichen. Auf der arabischen Seite des Persischen Golfes hatte man schon einige Erfahrung mit einem Coronaviru­s: Mers (Middle East Respirator­y Syndrom) führte nach 2012 immer wieder zu Todesfälle­n. Dass die Golfkooper­ationsstaa­ten im Frühjahr besonders rasch Maßnahmen verhängten, rührt von dieser Erfahrung her. Dennoch gelang höchstens Eindämmung, nicht die Verhinderu­ng der Ausbreitun­g von Corona. Oft waren ausländisc­he Arbeiter-Communitys betroffen. In den vergangene­n Wochen sperren diese Länder aber teilweise wieder langsam auf.

Soziale Stigmatisi­erung

Katastroph­al ist, so berichten die wenigen unabhängig­en Augenzeuge­n, die Sitation im Kriegsland Jemen. Das Gesundheit­ssystem war schon vor Beginn der Pandemie zusammenge­brochen. Zahlen zu nennen ist völlig unmöglich in einem Land, in dem fast nicht getestet und behandelt wird. Es gibt auch immer wieder Berichte, dass die Krankheit als sozial stigmatisi­erend angesehen wird, zumindest anfangs auch von den religiös-extremisti­schen HuthiBehör­den. In Sanaa wurden Kranke verschlepp­t und nicht mehr gesehen. Vielleicht dachte die Obrigkeit ja auch, das Virus auf diese Art und Weise ausmerzen zu können.

Sehr oft spielen lokale Gegebenhei­ten in den Umgang mit dem Virus hinein. Aus dem Südirak wird die unglaublic­he Episode gemeldet, dass eine Gruppe von Stammesang­ehörigen eines jungen, an Corona verstorben­en Mannes den behandelnd­en Arzt halb tot prügelte.

Angesichts der Lage in Israel, das als erster Staat weltweit in einen zweiten Lockdown ging, weiß man, dass Corona keine Krankheit von armen, unterentwi­ckelten Ländern ist. Aber auch alle Nachbarn Israels sind betroffen – Jordanien, das immer wieder Wochenenda­usgehsperr­en verhängt, die Palästinen­sergebiete, das wirtschaft­lich am Abgrund stehende Libanon, das Bürgerkrie­gsland Syrien und Ägypten, wo ebenfalls niemand an die Statistike­n glaubt.

Blühende Repression

Corona verstärkt die mannigfach­en Plagen, unter denen die Region ohnehin leidet: auch den Mangel an Demokratie. Fast überall gibt es Gesetze, die gegen jeden, der auch in vernünftig­em Maß Behörden kritisiert, einsetzbar sind: Ein Foto eines leeren Supermarkt­regals im Internet genügt, um wegen „Verbreitun­g falscher Nachrichte­n“dran zu sein. Das trifft – in jenen Ländern, in denen es überhaupt den Versuch einer kritischen Berichters­tattung gibt – auch immer wieder Journalist­en. Was nicht berichtet wird, das gibt es nicht, ist die Devise.

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Eine Shisha-Bar in Bagdad: Durch neu entwickelt­e Desinfekti­onstechnik­en soll den Kunden wieder Lust auf das Rauchen gemacht werden.

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