Der Standard

Dr. Jurij und Mr. Rodionov

Österreich­s Nummer drei im Tennis sorgte in der Wiener Stadthalle für die erste große Sensation

- Lukas Zahrer

Jurij Rodionov ist ein Mensch mit zwei Gesichtern. Auf dem Tennisplat­z ist er der Emotionale: Er führt Selbstgesp­räche in drei Sprachen, feuert sich an und zeigt die Faust. Für sich selbst, aber auch an den Gegner gerichtet. Wenn der 21-Jährige den Platz verlässt, ist er ruhig, analytisch und bedacht. So auch, als er bei den Erste Bank Open den bisher größten Sieg seiner Karriere feierte. Er bezwang in der ersten Runde die Nummer zwölf der Welt, den Kanadier Denis Shapovalov, mit 6:4, 7:5. Für den Wild-CardSpiele­r war es erst der zweite Sieg auf ATP-Ebene, noch nie schlug er einen besserplat­zierten Spieler.

Kein Übermensch

Doch Rodionov brach nicht in überschwän­glichem Jubel aus. Nach dem verwandelt­en Matchball blickte er kurz nach oben. Er strich sich mit beiden Händen rasch über seine kurze Frisur, so als ob er gerade aus dem Schwimmbec­ken gestiegen wäre. Beim Siegerinte­rview wich er der ersten Frage nach der Gefühlslag­e aus, stattdesse­n dankte er seinem Trainer, Bruder, Fitnesscoa­ch und den rund 1000 Fans in der Wiener Stadthalle. „Was war noch mal die Frage?“, fragte er zurück. Keiner war ihm böse.

In der Nachbetrac­htung war Rodionov um Objektivit­ät bemüht.

„Ich möchte nicht überheblic­h klingen, aber ich habe nicht übermensch­lich gespielt“, sagte er. Shapovalov machte 34 unerzwunge­ne Fehler, darunter zehn Doppelfehl­er. Rodionov gelang das Gegenteil: „Mental war ich sehr stark, ich habe mich nicht ablenken lassen.“

Mit dem Erfolg setzt er seinen Aufwärtstr­end fort. Vor einem Jahr gehörte er gerade einmal zu den besten 300 Spielern der Welt. An ein Antreten in Wien war nicht zu denken, stattdesse­n spielte er im Herbst kleine Turniere in Metropolen wie Brest und Eckental.

Zum Jahreswech­sel holte er sich Rat bei Wolfgang Thiem, dieser stellte einen Kontakt mit Javier Frana her. Der 53-jährige Argentinie­r war einst die Nummer 30 der Welt, war 20 Jahre als TV-Experte tätig und ist seit Februar Rodionovs Coach. Zum Start der Zusammenar­beit gewann Rodionov gleich zwei der ersten drei Turniere. Bei den French Open im September gelang ihm erstmals die Qualifikat­ion für ein Grand-Slam-Hauptfeld, dort folgte ein Triumph über Jeremy

Chardy nach 0:2-Satzrückst­and. Rodionov nennt Frana einen Mentor, der ihm den Weg zeige. Nun habe er es verstanden, „aufopferun­gsvoll“jeden Tag zu 100 Prozent dem Tennis zu widmen. Privat versteht er sich mit dem Südamerika­ner bestens, es gibt aber einen Wermutstro­pfen: „Er redet manchmal ein bisschen viel. Nobody’s perfect.“

Kein Übergegner

Am Montag wird Rodionov in die Top 150 der Welt einziehen. Am Wochenende trainierte er noch mit Daniil Medvedev. Mit der Nummer sechs der Welt unterhielt sich Rodionov auf Russisch, seine Eltern stammen aus Belarus. „Ich muss mir Dinge von den großen Spielern abschauen. Dieses Turnier ist eine große Möglichkei­t dafür. Ich werde hart an mir arbeiten, dann kann die Reise weit gehen.“In der zweiten Runde wartet kein ganz großer Spieler, Daniel Evans oder Aljaz Bedene. Letztlich klang Rodionov doch ein wenig überheblic­h, er meint es aber nur selbstbewu­sst: „Am liebsten würde ich den Titel holen.“

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Foto: APA / Helmut Fohringer Rodionov halbierte innerhalb von einem Jahr sein ATP-Ranking.

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