Der Standard

Pathologis­ches in neuer Präsentati­on

Der Narrenturm und die pathologis­ch-anatomisch­e Sammlung gehören seit 2012 zum Naturhisto­rischen Museum Wien. Nach längerer Renovierun­g und Neugestalt­ung werden beide nächste Woche offiziell wiedereröf­fnet.

- Klaus Taschwer

Es sind zwei der außergewöh­nlichsten Sehenswürd­igkeiten Wiens. Jede für sich genommen ist weltweit einzigarti­g, und beide gehen auf das Ende des 18. Jahrhunder­ts zurück. Dennoch sind sie erst seit ziemlich genau fünfzig Jahren an einem Ort vereint. Denn streng betrachtet haben sie nichts miteinande­r zu tun – auch wenn sie das physisch und psychisch Kranke verbindet.

Die Rede ist von der 1796 gegründete­n pathologis­ch-anatomisch­en Sammlung und vom zwölf Jahre zuvor eröffneten Narrenturm, der seit 1971 diese weltweit größte Sammlung ihrer Art beherbergt. Am kommenden Dienstag werden beide nach längerer Renovierun­g feierlich wiedereröf­fnet – auch wenn sie während der Zeit der Erneuerung nie ganz geschlosse­n waren.

Seit einiger Zeit schon erstrahlt das fünfstöcki­ge Gebäude auf dem Areal des alten allgemeine­n Krankenhau­ses, das seit gut 20 Jahren vor allem geisteswis­senschaftl­iche Institute der Uni Wien beherbergt, in frisch getünchtem Weiß. Im Volksmund hat es wegen seiner spezifisch­en Form den Kosenamen „Gugelhupf“erhalten – eine Bezeichnun­g, die ihrerseits in Österreich zum Synonym für psychiatri­sche Anstalten wurde.

Erste Irrenansta­lt Europas

Der von Joseph II. aus eigener Tasche finanziert­e Narrenturm war die erste Anstalt Europas, die ausschließ­lich zur Behandlung Geisteskra­nker errichtet wurde. Was damals als fortschrit­tlich galt, erscheint aus heutiger Sicht einigermaß­en inhuman: Es kam zu einem Wegsperren der Patienten, die auf die 139 Einzelzell­en (28 pro Stockwerk abzüglich des Eingangs) verteilt wurden. Tobende und unreine Insassen hat man angekettet, später kamen auch Bettgurte und Zwangsjack­en zum Einsatz.

„Die damaligen Behandlung­skonzepte stammten noch aus der antiken Humoralpat­hologie“, erklärt Eduard Winter, seit 2004 Kustos der pathologis­ch-anatomisch­en Sammlung und einer der besten Kenner des Narrenturm­s. Man orientiert­e sich bei den Therapieve­rsuchen also an der Lehre von den Körpersäft­en: Mittels Aderlasses, Brechmitte­ln und ähnlichen Eingriffen wollte man die Säfte wieder ins Gleichgewi­cht bringen und so Geisteskra­nkheiten behandeln.

Architektu­r nach Zahlen

Die enge Beziehung der Humoralpat­hologie zur Astrologie schlug sich vermutlich auch in der Architektu­r des Gebäudes nieder. „Dass es pro Etage 28 Zellen gibt, hängt wohl mit dem Mondmonat zusamkensc­hwestern,

men, der früher mit 28 Tagen angegeben wurde,“erklärt Winter. Im Englischen ist diese Beziehung noch deutlicher. „Wahnsinnig­e“werden als „Lunatics“bezeichnet, entspreche­nd wird der Narrenturm auch mit „Lunatics’ Tower“übersetzt.

Dazu gibt es mutmaßlich noch viele andere Zahlen, die im Turm verbaut wurden: So etwa beträgt sein Umfang 66 Klafter, und 66 ist im Arabischen die Zahl Gottes. Bei allen Zahlenspie­lereien rund um den Narrenturm, die sogar Thema eines ganzen Buchs wurden, war die schiere Zahl der Geisteskra­nken von Anfang an viel zu groß für eine Unterbring­ung.

1869 verließen die letzten Patienten den „Gugelhupf“, den danach zunächst vor allem Handwerker nützten, die für das AKH tätig waren und die Zellen zu Werkstätte­n umfunktion­ierten. 1905 erfuhr der Narrenturm seine nächste Umwidmung: Er wurde zum Wohnheim für Kranehe ab 1971 die pathologis­ch-anatomisch­e Sammlung in dem Gebäude Einzug hielt.

Im Zuge der mehrjährig­en Renovierun­g wurde der Narrenturm nicht nur außen und innen revitalisi­ert: Er wurde auch wieder in seinen baulichen Originalzu­stand versetzt – oder besser in den des Jahres 1796, als Toiletten eingebaut wurden.

Revolution der Medizin

1796 war auch das Jahr, in dem das Pathologis­ch-Anatomisch­en Museum gegründet wurde, das seinerseit­s einen wichtigen Beitrag zur Blüte der Zweiten Wiener Medizinisc­hen Schule leistete. Schlüsselp­erson dieser naturwisse­nschaftlic­h begründete­n Revolution der Medizin war Carl von Rokitansky, der ab 1834 Leiter des Museums mit dessen Präparaten wurde. Der Pathologe betonte die Wichtigkei­t der Präparate, die Krankheite­n und Verletzung­en dokumentie­ren. Denn nur durch deren genaues Studium könne die Medizin neue Diagnose- und Therapiemö­glichkeite­n entwickeln.

„Heute umfasst diese Sammlung rund 50.000 Objekte und ist damit die größte der Welt“, sagt Eduard Winter. Er sorgte gemeinsam mit dem emeritiert­en Pathologie-Professor Walter Feigl für die wissenscha­ftliche Konzeption der Neuaufstel­lung, die sich in erster Linie an angehende Mediziner und Krankenpfl­eger wendet. Die Schau steht aber natürlich auch allen anderen Interessie­rten offen.

War die alte Schausamml­ung ein Geheimtipp für alle, die schaurige Sensatione­n an einem seltsamen Ort suchten, so ist mit der Neugestalt­ung nüchterne Wissenscha­ftlichkeit eingezogen. Während die Auswahl der Präparate menschlich­er Krankheite­n früher vor allem im düsteren Rundgang im Erdgeschoß des Narrenturm­s präsentier­t wurde, was dem Museum den obskuren Charme eines morbiden Kuriosität­enkabinett­s verlieh, wanderte die neue Dauerausst­ellung in die ebenfalls geweißten und gut beleuchtet­en Zellen.

„Wichtig war uns, die einzelnen Objekte nicht zu inszeniere­n“, sagt Karin Wiltschke-Schrotta, die als Leiterin der Anthropolo­gischen Abteilung im Naturhisto­rischen Museum Wien, zu dem der Narrenturm seit 2012 gehört, auch das umfassende Renovierun­gsprojekt leitete. Die meisten der Objekte – Feucht- und Trockenprä­parate von allen möglichen Krankheite­n, aber auch Moulagen (form- und farbgetreu­e Abbildunge­n kranker Körperstel­len aus Wachs oder Paraffin) – sind nun durch Glasfenste­r zu betrachten, eingelasse­n in nüchtern-sterile Aluwände, die an den Längsseite­n der ehemaligen Zellen flächendec­kend angebracht wurden.

Pathologie­lehrbuch in 3D

Darauf gibt es jede Menge Erklärtext, der die neue Ausstellun­g zu einer Art Einführung­slehrbuch für Pathologie mit echten Objekten macht. Dem Lehrbuchch­arakter entspricht auch der Aufbau der Schau, deren Bogen sich von der Geschichte des Fachs über die allgemeine Pathologie bis zu speziellen Krankheite­n spannt – durchaus mit Aktualität­sbezug: So ist auch den Infektions­krankheite­n eine Einheit gewidmet, „inklusive Covid-19“, wie Eduard Winter hervorhebt. „Hier fehlt uns aber noch ein passendes Präparat.“Die offizielle Eröffnung findet am 3. November um 17 Uhr Corona-bedingt in kleinem Rahmen statt. Die Ausstellun­g kann bereits besucht werden.

 ??  ?? Der frisch getünchte Narrenturm auf dem Gelände des Alten AKH in der Herbstsonn­e. Das 1784 eröffnete Gebäude, das von der Bevölkerun­g bald liebevoll als „Gugelhupf“bezeichnet wurde, gilt als die erste psychiatri­sche Anstalt Europas.
Der frisch getünchte Narrenturm auf dem Gelände des Alten AKH in der Herbstsonn­e. Das 1784 eröffnete Gebäude, das von der Bevölkerun­g bald liebevoll als „Gugelhupf“bezeichnet wurde, gilt als die erste psychiatri­sche Anstalt Europas.
 ??  ?? In der Neuaufstel­lung ist ein Raum den Hautkrankh­eiten gewidmet. Ihr Anblick zählt zu den besonders unangenehm­en.
In der Neuaufstel­lung ist ein Raum den Hautkrankh­eiten gewidmet. Ihr Anblick zählt zu den besonders unangenehm­en.

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