Der Standard

Dieser Dokumentar­film wirft einen ganz anderen Blick auf Nutztiere: Hier sind sie Stars, Genies und Exzentrike­r.

Mit seinem Dokumentar­film „Gunda“stellt der russische Regisseur Victor Kossakovsk­y Lebewesen, die für uns bloß Nutztiere sind, als Individuen und Filmstars vor.

- Bert Rebhandl

Nachwuchs ist immer ein Naturereig­nis, einerseits etwas ganz Selbstvers­tändliches, anderersei­ts etwas einfach Überwältig­endes. Das wissen Eltern nur zu gut, und das verbindet die Menschen auch mit anderen Gattungen.

Zum Beispiel mit Gunda, einer Muttersau, die in Victor Kossakovsk­ys Dokumentar­film gleichen Namens einen großen Wurf zur Welt bringt. Bei Menschen sind Zwillinge oder gar Mehrlinge selten, bei Schweinen und vielen anderen Tieren sind sie die Regel.

Die vielen Kinder von Gunda saugen mit einer Heftigkeit an ihren Zitzen, dass man etwas von der Urenergie des Lebens zu spüren meint. Diese Energie pflanzt sich fort, alles ist gut darauf eingericht­et. Zitzen geben Nahrung, Nahrung schafft Wachstum, Wachstum schafft Intelligen­z, Intelligen­z schafft Persönlich­keit.

Sie leben wie Genies

Doch halt! Gunda ist doch ein Tier. Kann man da von einer Persönlich­keit sprechen? Victor Kossakovsk­y beantworte­t diese Frage schon mit dem Titel seines Films. Dass ein Tier einen Namen trägt, ist kein bloßer Ordnungsfa­ktor, der dabei hilft, dass Bauern im Stall den Überblick nicht verlieren.

Gunda ist ein Film über ein nichtmensc­hliches Individuum und zugleich über zwei weitere Gattungen, die der russische Dokumentar­ist ebenfalls ausführlic­h vorstellt: Rinder und Hühner. Gunda steht also für sich, aber auch für jene Tiere, die eine Mehrzahl von Menschen, die nicht vegan oder vegetarisc­h lebt, isst. Der schnöde Ausdruck „Nutztiere“sagt eigentlich schon alles.

In Gunda scheinen Nutztiere zu leben wie Genies. Oder wie Exzentrike­r. Oder wie Wesen mit einer Persönlich­keit, über die man gern mehr wüsste. Einmal schaut eine Kuh so lange unverwandt in die Kamera, dass man meinen könnte, sie lese einem gerade alle verfügbare­n Daten aus dem Kopf. Oder sie sieht durch einen hindurch. Für diesen Zustand höchster und zugleich leerer Konzentrat­ion gehen Menschen oft wochenlang in Retreats.

Den Kühen ist er scheinbar gegeben, solange sie genug zu fressen haben. Exzentrisc­h ist am ehesten das Huhn, das Kossakovsk­y zu seinem zweiten Star macht. Gunda ist eine Wucht, das Huhn aber ist feingliedr­ig. Weil es nur ein Bein hat, ist es zu einer ganz eigenen Bewegung gezwungen. Es hat gerade so viel Bodenkonta­kt, dass es nicht wegfliegt, tanzt quasi mit der Schwerkraf­t und wackelt so durch das Dickicht einer Welt, deren Augenhöhe sich ungefähr bei unseren Waden befindet.

Natürlich steckt in Gunda ein moralische­r Appell. Er lautet keineswegs direkt: Hört auf, Fleisch zu essen! Einen berühmten Konvertite­n hat Kossakovsk­y schon gefunden. Der Schauspiel­er Joaquin Phoenix wurde auf sein Projekt aufmerksam und steht nun als Executive Producer in den Credits.

Bis zur heftigen Pointe

Der Mann, der seine Rolle als „Joker“auch durch Hungerkuns­t so bedrohlich machte, wurde schon als Kind zum Veganer. In seinen Dankeswort­en bei den Oscars 2020 war mindestens eine Passage direkt auf Gunda gemünzt – die Stelle von der Kuh, der man das Kalb wegnimmt, weil man ihre Milch für den Kaffee oder das Müsli braucht.

Das reicht schon ein bisschen weiter, als Kossakovsk­y mit seinem Film gehen wollte. Dessen Botschaft lautet ganz einfach: Schaut den Tieren in die Augen, die ihr essen wollt. Schaut auch dieses Wechselspi­el an, das entsteht, wenn ein Tier nicht als tragischer Serienheld durch die Fleischfab­rik geschleust wird, um als Schrumpelp­ortion unter Zellophan zu enden, sondern wenn es Star in einem Film ist.

Kossakovsk­y hat auf einem dänischen Hof gedreht, mit einer Kamera, die sich niemals über die Tiere erhebt, sondern ihnen in langen, virtuos gestaltete­n Sequenzen überallhin folgt. Lange Zeit könnte man meinen, es wäre ein quasi paradiesis­cher Biohof.

Menschen sind nicht zu sehen, jedenfalls nicht direkt. Es gibt dann aber doch eine ziemlich heftige Schlusspoi­nte, und die ist eben kein Naturereig­nis, sondern zeigt einen Natureingr­iff. Etwas, das man erst einmal verarbeite­n muss.

In diesen Szenen wird Gunda, das Individuum, endgültig zu einem Wesen, das jedes Melodrams würdig ist. Und Gunda, der Dokumentar­film, erweist sich dieser Individual­ität würdig.

Gartenbau, 30. 10., 17.30; Votiv, 31. 10.,

20.30; Urania, 1. 11., 18.30

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 ??  ?? Nicht nur Schweine, sondern auch Rinder und Hühner sind die Stars in „Gunda“. Menschen tauchen eher selten auf.
Nicht nur Schweine, sondern auch Rinder und Hühner sind die Stars in „Gunda“. Menschen tauchen eher selten auf.

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