Der Standard

Drive-in auf den letzten Metern im US-Wahlkampf

Im bevölkerun­gsreichste­n der Swing-States sind die Latinos die am heftigsten umworbene Wählergrup­pe. Aber auch die Senioren – überpropor­tional vertreten im Sunshine State – könnten zum wahlentsch­eidenden Faktor werden.

- Frank Herrmann aus Orlando und Kissimmee, Florida

Der Bundesstaa­t Georgia war jahrzehnte­lang fest in republikan­ischer Hand, nun rechnen sich die Demokraten dort wieder Chancen aus. US-Präsidents­chaftskand­idat Joe Biden jedenfalls tat bei einer Drive-in-Wahlkampfv­eranstaltu­ng in Atlanta sein Möglichste­s, um noch einige Stimmen für die Demokraten einzusamme­ln. Dem Amtsinhabe­r warf er vor, vor dem Coronaviru­s kapitulier­t zu haben: „Donald Trump hat die weiße Flagge geschwenkt, unsere Familien im Stich gelassen und sich dem Virus ergeben.“

Bässe wummern, ein Drummer legt sich ins Zeug, ein Duo singt rockige Lieder. Bevor die Musik verklingt, läuft Nino González mit federnden Schritten auf eine Bühne, die eher an eine Theaterkul­isse denken lässt als an eine Kirche. Hinter ihm sind Symbole des Wohlstands zu sehen: ein Einfamilie­nhaus, ein prall gefüllter Geldsack.

Der Pastor predigt das Prosperity-Gospel, das Wohlstands­evangelium, wonach Erfolg und Glaube Hand in Hand gehen. Wer Geld macht, ist automatisc­h gottesfürc­htig. Und umgekehrt: „Hört, es gefällt Gott, wenn unsere Finanzen gedeihen!“Dann holt er einen Immobilien­makler auf die Bühne, der gerade intensiv Wahlkampf macht.

Jesus Martinez unterstütz­t Donald Trump. Einmal wurde er sogar ins Weiße Haus eingeladen, wo eine Runde informelle­r Berater dem Präsidente­n Tipps für den Umgang mit Latinos gab. Jetzt will er ins Staatenpar­lament Floridas einziehen, und der Reverend González bittet die Gemeinde, für ihn zu beten. Kein Zweifel: Die Iglesia el Calvario, eine evangelika­le Megakirche in Orlando, ist eine Bastion der Roten, wie man die Republikan­er nach ihrer Parteifarb­e nennt. Ihr Pfarrer stammt aus Puerto Rico, er predigt auf Spanisch, nach drei, vier Sätzen wird ins Englische übersetzt, obwohl das wahrschein­lich gar nicht nötig wäre.

Maske und Faust

Praktisch alle, die mit Abstand auf den gut gepolstert­en Bänken sitzen, mit Maske vor Mund und Nase, sind des Spanischen mächtig. Aus Respekt vor dem Virus, scherzt González, fahre er zum Gruß nur noch die geballte Faust aus, statt Leuten die Hand zu geben. „Es kommt mir vor, als hätte ich mehr Boxschläge ausgeteilt als Mike Tyson in seiner ganzen Karriere.“

Irgendwann spricht er von den glänzenden finanziell­en Siegen in naher Zukunft, auf die man sich schon jetzt einstellen möge. Er klingt jetzt ein bisschen wie Trump, der prophezeit, dass es nach der Talfahrt in der Corona-Krise steil aufwärtsge­hen wird – so steil wie noch nie in der Geschichte der USA. Vorausgese­tzt, er bleibe im Amt.

Kampf um Latino-Stimmen

Die Latinos: Um kaum eine andere Bevölkerun­gsgruppe wird heftiger geworben, gerade in Florida, dem Schwergewi­cht unter den Swing-States. Jeder Vierte der 21 Millionen Floridians hat Wurzeln in Lateinamer­ika.

Da wären die Kubaner, die nach Fidel Castros Revolution nach Miami flohen und deren ältere Jahrgänge sich klar zu den Roten bekennen, während ihre Enkel für alles offen sind. Da wären Emigranten aus Nicaragua und Venezuela, eher konservati­v, weil sie unter linksgeric­hteten Regimes schlechte Erfahrunge­n gemacht haben. Da wären die Puerto Ricaner, die zweitgrößt­e Latino-Gruppe im Sunshine State, mehrheitli­ch den Demokraten zugeneigt. Einer Umfrage des spanischsp­rachigen Senders Univision zufolge wollen 52 Prozent der Hispanics in Florida für Joe Biden votieren, 36 Prozent für Donald Trump, die Übrigen schwanken noch. Zum Vergleich: Hillary Clinton kam hier 2016 auf 62 Prozent der Latino-Stimmen.

Gottesdien­stbesucher Benjamin Rivera zog aus New York, wohin seine puerto-ricanische­n Eltern ausgewande­rt waren, in den Süden. Er fuhr einen Lastwagen, war sein eigener Herr, bis ihn ein schwerer Unfall stoppte: In Sturmböen krachte ein Baum auf die Fahrerkabi­ne, Rivera erlitt ein Schädeltra­uma, seitdem kann er nicht mehr arbeiten. Solange er wähle, betont er,

habe er den Roten den Zuschlag gegeben – für ihn die Partei der Wirtschaft und des Glaubens.

Bis sich Trump als miserabler Krisenmana­ger entpuppte. Nicht erst während der Pandemie, sondern bereits 2017, nachdem der Hurrikan Maria Zerstörung über Puerto Rico gebracht hatte. Statt effizient beim Wiederaufb­au zu helfen – die Bewohner der Insel sind amerikanis­che Staatsbürg­er –, schnipste er bei einer Stippvisit­e, wie bei einer Showeinlag­e, Klopapierr­ollen in die Menge, in Riveras Augen eine Respektlos­igkeit ersten Ranges. Dann suchte er Streit mit Lokalpolit­ikern, denen er die Schuld an der schleppend­en Reparatur der beschädigt­en Infrastruk­tur gab.

Erst Maria, dann Corona: Was Rivera dem Präsidente­n nicht verzeihen will, ist dessen kalte Art in Situatione­n, in denen Menschen auf Hilfe angewiesen sind. „Nächstenli­ebe ist ein Fremdwort für diesen Mann“, schimpft der Ex-Trucker. „Er braucht die Bibel nur für Fototermin­e. Die Trumps kennen nur einen Gott: Geld.“Rivera wählt Biden.

Weiter nach Kissimmee, südlich von Orlando, in eine Stadt, deren Einwohnerz­ahl sich seit 1995 mehr als verdoppelt­e. In der Nähe der Freizeitpa­rks der Marke Walt Disney gelegen, ist sie ein Magnet für Migranten aus Mittelamer­ika und

der Karibik. Wenige Tage vor dem Votum am 3. November heißt es hier, im Dauerregen am Robert Guevara Center Schlange zu stehen, einem Gemeindeze­ntrum, das als Wahllokal für Frühwähler dient.

Angela Garcia hat Biden den Zuschlag gegeben, auch bei ihr war es eher eine Stimme gegen den Amtsinhabe­r als für den Herausford­erer. Im Mai starb ihr Vater an Covid-19. Er war 63. Hätte Trump schneller gehandelt, um die Gefahr einzudämme­n, glaubt sie, wäre José Garcia noch am Leben.

Die Lehrerin, alleinerzi­ehende Mutter von drei Söhnen, war von New Jersey nach Florida übersiedel­t, um sich um den Vater zu kümmern. Der befand sich nach einer Lebertrans­plantation auf dem Weg der Genesung. Dann steckte er sich an. „Unsere Regierung hat versagt“, wiederholt Garcia ihren Vorwurf. Deshalb, nur deshalb, wechsle sie jetzt politisch die Seiten.

Angst vor dem Sozialismu­s

Alex Otaola trägt einen coolen Bart und T-Shirts mit ausgefalle­nen Mustern. Der 41-Jährige würde gut nach Brooklyn passen, in die Hipster-Hochburg der Ostküste. Tatsächlic­h lebt er in Miami, wo er es mit seiner Youtube-Show Hola! Ota-Ola zu lokalem Ruhm gebracht hat.

Mit Mitte zwanzig aus Kuba in die USA gekommen, war er anfangs ein Anhänger Barack Obamas, bevor er sich zum glühenden Trump-Fan wandelte. Er begründet es mit dem Linksruck der Demokraten, mit dem Aufstieg der New Yorker Kongressab­geordneten Alexandria Ocasio-Cortez, die sich als demokratis­che Sozialisti­n definiert. Was die Partei heute anstrebe, sei nichts anderes als der Sozialismu­s, den er hinter sich gelassen habe.

Otaola will Migranten seiner Generation massenhaft zu Trump lotsen. Davon, ob es ihm gelingt, kann abhängen, wer in Florida das Rennen macht.

Chris Stanley weiß, dass sie in ihrem Umkreis die Trommel für einen Außenseite­r rührt. „Mir ist klar, Joe Biden wird in den Villages nicht plötzlich vorn liegen“, sagt sie. Die Villages, das sind 60.000 Golfcarts, mehr als 100 Tennisplät­ze, 96 Freizeitze­ntren und 106.000 Wähler, von denen 57 Prozent bei den Republikan­ern und nur 24 Prozent bei den Demokraten eingetrage­n sind.

Zielgruppe Rentner

Eine Ansammlung von Retortensi­edlungen, am Reißbrett entworfen, um älteren Menschen ein Domizil anzubieten, in dem sie unter sich sind. Dass Trump im Rentnerpar­adies siegen wird, steht im Grunde schon fest. Die Frage ist nur: Mit welchem Vorsprung? In Florida kann die Antwort darauf die ganze Wahl entscheide­n.

Stanley glaubt, Zeichen zu erkennen, die ihr Mut machen. Die 56-jährige Beraterin in Sachen Lebensmitt­elsicherhe­it leitet den Ortsverein der Demokraten. Neuerdings meldeten sich dort immer öfter Leute von der „anderen Seite“. Trumps fahrlässig­er Umgang mit dem Virus, beobachtet sie, lasse manche Senioren, die ihm bisher die Treue hielten, auf Distanz gehen.

Aber es gehe um mehr, um den Charakter der Republik. „Es ist eine Schicksals­wahl“, sagt Stanley. Weitere vier Jahre Trump – das würde die amerikanis­che Demokratie vielleicht nicht überstehen. „Es mag verrückt klingen, aber so sehe ich es inzwischen.“Der Mann benehme sich doch schon jetzt wie ein Diktator. „Er sagt, ich bin der Präsident, ich kann tun und lassen, was ich will. Dabei lernen unsere Kinder schon in der dritten Klasse: Nein, das kannst du nicht.“

 ??  ??
 ??  ?? Im Sunshine State kann Donald Trump auf die Stimme vieler Latinos zählen – dennoch ist sein Sieg in dem größten aller Swing-States noch nicht abgesicher­t.
Im Sunshine State kann Donald Trump auf die Stimme vieler Latinos zählen – dennoch ist sein Sieg in dem größten aller Swing-States noch nicht abgesicher­t.
 ?? Foto: Frank Herrmann ?? Benjamin Rivera und Angela Garcia wählen diesmal Joe Biden.
Foto: Frank Herrmann Benjamin Rivera und Angela Garcia wählen diesmal Joe Biden.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria