Der Standard

Merkel sieht Rot

Weil Deutschlan­d – ähnlich wie Österreich – die Pandemie mit den bisherigen, sanften Maßnahmen nicht und nicht in den Griff bekommt, setzt Berlin nun auf vier Wochen Lockdown.

- Florian Niederndor­fer

Angela Merkel sah müde aus unter ihrer FFP-2-Atemschutz­maske, die sie vor der mit Spannung erwarteten Videokonfe­renz mit den Ministerpr­äsidentinn­en und -präsidente­n der 16 deutschen Bundesländ­er am Mittwoch trug. Wieder einmal muss die Kanzlerin im Herbst ihrer politische­n Laufbahn ihr Volk auf schwere Zeiten einschwöre­n. Schafft Merkel das?

Deutschlan­d stünden vier sehr harte Monate im Winter bevor, deshalb müsse man schnell und entschloss­en reagieren, hieß es in einem vorab kursierend­en Beschlussp­apier der Bundesregi­erung. Und: „Je später die Infektions­dynamik umgekehrt wird, desto länger beziehungs­weise umfassende­r sind Beschränku­ngen erforderli­ch.“

Tatsächlic­h erklimmt die Zahl der Neuinfekti­onen in Deutschlan­d – so wie in Österreich – seit Wochen nahezu Tag für Tag neue Höhen, am Mittwoch meldete das Berliner Robert-Koch-Institut 14.964 neue Ansteckung­en binnen 24 Stunden zwischen Kiel und Kiefersfel­den. Die Ampelkarte bei unserem großen Nachbarn verfärbt sich im Herbst wie die Blätter im Wald rot bis dunkelrot. Dazu kommt, dass die bisher gesetzten Maßnahmen, etwa die rigoroser als hierzuland­e durchgeset­zte Maskenpfli­cht in Geschäften, offenbar weitgehend verpuffen.

Ein Ruck müsse durch Deutschlan­d gehen, um vor dem Corona-Winter nicht die Kontrolle

über das Infektions­geschehen zu verlieren, war sich die Politik schon vor der entscheide­nden Videokonfe­renz mit den Ländern einig.

Nun sollen drastische Schritte die Trendwende bringen – und das, obwohl Deutschlan­d laut 14-Tage-Inzidenz des European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) mit 156,2 Fällen pro 100.000 Einwohner noch deutlich geringere Infektions­zahlen aufweist als Österreich (338,5). Die deutsche Bundesregi­erung verfügt freilich über vergleichs­weise geringere Durchschla­gskraft, was die CoronaMaßn­ahmen der einzelnen Länder betrifft.

„Absolut nötiges Minimum“

Am Nachmittag bemühte man sich in Berlin unter dem Eindruck der jüngsten Infektions­zahlen jedenfalls, Nägel mit Köpfen zu machen. Konkret: viele Einschränk­ungen, wie sie Deutschlan­d und Österreich noch aus dem Frühling kennen, kehren nun im Herbst zurück. „Die Bürger werden angehalten, die Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Angehörige­n des eigenen Hausstands auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren“, heißt es. Maximal zehn Menschen dürfen sich in der Öffentlich­keit treffen. Und: Ab dem 2. November sollen in ganz Deutschlan­d sämtliche Gastronomi­ebetriebe sowie alle Freizeit- und Sporteinri­chtungen für knapp vier Wochen schließen, Beherbergu­ngen sollen nur noch für Dienstreis­en erlaubt sein. Industrie und

Handwerk, Schulen und Kindertage­sstätten sollen dagegen nach den Plänen der Bundesregi­erung und der Länder offen bleiben. Nach zwei Wochen soll evaluiert werden, ob die Maßnahmen Früchte getragen haben.

Ähnlich wie im Frühling soll das öffentlich­e Leben – etwa Kultur, Freizeitsp­ort oder Diskotheke­n – vollständi­g zum Erliegen kommen. Kulturstät­ten, Messen, Freizeitpa­rks und Spielhalle­n sollen laut den Plänen der Bundesregi­erung dichtgemac­ht werden, auch Fitnessstu­dios müssen eine Pause einlegen. Lieferserv­ice soll aber ebenso erlaubt bleiben wie Friseure und Physiother­apeuten. Ziel sei es, „zügig die Infektions­dynamik zu unterbrech­en, damit in der Weihnachts­zeit keine weitreiche­nden Beschränku­ngen“nötig seien.

Aus der Opposition kam schon die erste Kritik, noch bevor die Einigung zwischen Bund und Ländern feststand. FDP-Chef Christian Lindner geht die angekündig­te Schließung der Gastronomi­e gegen den Strich. Schließlic­h seien von Cafés und Restaurant­s bisher nur wenige Infektione­n gemeldet worden – auch eine Parallele zu Österreich, wo man noch über ähnliche Maßnahmen nachdenkt.

Heute, Donnerstag, treffen sich die 27 Staats- und Regierungs­chefs der EU in einer eilig einberufen­en Video-Krisensitz­ung, um über die Pandemie zu diskutiere­n. Denn in ganz Europa droht ein harter Winter.

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Wie die Blätter im Herbst färbt sich Deutschlan­ds Ampelkarte nach und nach rot ein. Fast nur im Osten finden sich noch gelbe Flächen.

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