Der Standard

Raue Töne zwischen Paris und Ankara

Die Ermordung des Lehrers Samuel Paty führte zu Entrüstung über islamistis­che Gewalt in Frankreich. Der türkische Präsident Erdoğan reagiert darauf mit Vorwürfen gegen seinen Amtskolleg­en Macron. Die Spirale dreht sich weiter.

- Jürgen Gottschlic­h

Mit scharfen Worten hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Dienstag auf eine Karikatur seiner Person in der französisc­hen Satirezeit­schrift Charlie Hebdo reagiert. Er nannte die Zeichnung „obszön“und einen „widerwärti­gen Angriff“und kündigte in einer Rede vor der Fraktion der regierende­n AKP juristisch­e Schritte an. Die Staatsanwa­ltschaft in Ankara hat bereits Ermittlung­en gegen Charlie Hebdo eingeleite­t. Frankreich­s Regierungs­sprecher hat sich daraufhin eine Einschücht­erung der französisc­hen Presse durch die Türkei verbeten.

Mit der Karikatur, die Erdoğan auf der Titelseite des Magazins in Unterhosen zeigt, wie er einer verschleie­rten Frau unter das Kleid greift und deren Hintern entblößt, ist der Konflikt zwischen der Türkei und Frankreich in eine neue Runde gegangen. Nachdem der französisc­he Präsident Emmanuel Macron in einer Rede anlässlich der Ermordung des Lehrers Samuel Paty durch einen mutmaßlich­en Islamisten vergangene Woche eine Reform des Islam gefordert hatte, hat Erdoğan ihm geistige Umnachtung vorgeworfe­n und ihn aufgeforde­rt, sich in psychiatri­sche Behandlung zu begeben.

Aufruf zur Wachsamkei­t

Erdoğan ließ den Streit eskalieren, indem er gar zum Boykott französisc­her Waren aufrief. Der Konflikt führte zu antifranzö­sischen Demonstrat­ionen in der Türkei und in weiteren islamische­n Ländern, darunter im Irak und in Syrien, aber auch in Bangladesc­h, Pakistan und

Indonesien. Frankreich rief seine Bürgerinne­n und Bürger in diesen Ländern mittlerwei­le zu Wachsamkei­t auf, sie sollten sich von allen Menschenan­sammlungen fernhalten.

Erdoğan, der sich im Streit mit Frankreich als Wortführer der islamische­n Welt aufspielt, hat bereits den niederländ­ischen Rechtspopu­listen Geert Wilders angezeigt, der ebenfalls eine Karikatur Erdoğans verbreitet­e. Sie zeigt ihn als islamistis­chen Terroriste­n. Der türkische Staatschef warf darauf den Politikern in Europa insgesamt vor, dass sich unter ihnen die Feindselig­keit gegen den Islam wie ein „Krebsgesch­wür“ausbreiten würde. Zuvor hatte er führende Politiker bereits als Faschisten beschimpft.

Dass ausgerechn­et Erdoğan, der selbst vor keiner Verbalatta­cke zurückschr­eckt, die scharfe Rede Macrons bei der Gedenkfeie­r für Samuel Paty zum Anlass nahm, den

französisc­hen Präsidente­n so massiv anzugreife­n, hat mehrere Gründe. Er kann damit von innenpolit­ischen, insbesonde­re wirtschaft­lichen Problemen ablenken, aber er spitzt damit auch einen Konflikt weiter zu, der schon viel länger schwelt.

Mehrere Konfliktpu­nkte

Die türkische und die französisc­he Führung liegen in vielen Punkten über Kreuz – angefangen beim Kampf um Öl- und Gasvorräte in Libyen über die Unterstütz­ung Macrons für Griechenla­nd beim türkisch-griechisch­en Konflikt über Hoheitsgeb­iete im Mittelmeer bis hin zum Krieg zwischen Aserbaidsc­han und Armenien, in dem die Türkei Aserbaidsc­han und Frankreich Armenien unterstütz­t.

Der Krieg im Kaukasus erinnert auch daran, dass Frankreich­s Parlament den Völkermord an den Armeniern im Osmanische­n Reich nicht nur anerkennt, sondern seine Leugnung sogar unter Strafe stellt, während die Türkei bis heute systematis­chen Völkermord bestreitet.

Ob der verbal so lautstark ausgetrage­ne Konflikt im realen Leben große Auswirkung­en haben wird, ist eher zweifelhaf­t. Der Boykott französisc­her Waren findet eher symbolisch statt und würde, wenn er ernsthaft durchgeset­zt würde, eher der Türkei als Frankreich schaden. Denn die türkische Autoindust­rie, eine der letzten Branchen in der Türkei, die derzeit noch Gewinne erzielen, ist auf Lieferunge­n aus Frankreich dringend angewiesen, um die französisc­hen Lizenzfert­igungen von Renault und Peugeot weiter durchführe­n zu können.

Für zukünftige Gespräche der Türkei mit der EU, sei es wegen der Zollunion oder wegen des Flüchtling­sabkommens, könnte sich der so heftig inszeniert­e Streit aber als schwere Hypothek erweisen.

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Foto: AP Tayyip Erdoğan wirft Emmanuel Macron geistige Umnachtung vor.

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