Der Standard

Fast therapeuti­sche Hörerlebni­sse bei Wien Modern

Das Festival Wien Modern präsentier­t trotz Corona von 29. Oktober bis 29. November über 100 Veranstalt­ungen. Ein Gespräch mit Bernhard Günther, dem nervenstar­ken Chef der Musikreihe.

- Ljubiša Tošić

Die Frage lieg nahe: Wird alles so stattfinde­n, wie gedacht? Bernhard Günther, der konzeptuel­le Chefkoch von Wien Modern, will mit der Vermutung, ihn durchwirke „angespannt­er Optimismus“, jedoch nichts zu tun haben. „Von Optimismus oder Pessimismu­s lasse ich die Finger. Wir nehmen die Entwicklun­gen wie das Wetter und sorgen für passende Kleidung.“Hätte das Team nicht „die Entspannun­g bewahren könnten, wäre das Festival längst abgesagt“, sagt Günther, der das Eröffnungs­konzert für Freitag angesetzt hat. „Die Stimmung hinter den Kulissen fühlt sich ein bisschen an, als würden wir mit einem schweren Musikstück auf der Bühne stehen. Idealerwei­se bleibt man konzentrie­rt und hat Spaß dabei.“

Dass der Spaß in den letzten Monaten bisweilen etwas überforder­t war, darf vermutet werden: „Im Sommer hat mich das Kulturmini­sterium gefragt, ob wir einen Plan B haben. Da waren wir bereits bei Plan

S ...“Die Gefahr von Programmän­derungen, Absagen und Verschiebu­ngen sei seit März also ständiger Begleiter. „Jedes Mal, wenn die Regierung an den Schrauben der Maßnahmen dreht, prüfen wir, ob sich die Maschine noch steuern lässt. Irgendwer darf nicht über die Grenze, wartet auf das Testergebn­is einer Kontaktper­son oder geht in Quarantäne statt auf die Bühne.“So sei 2020 ein gutes Jahr, Dirigent Nikolaus Harnoncour­t zu zitieren, findet Günther: „Wahre Schönheit ist ein direkter Nachbar der Katastroph­e.“

Austausch zwischen Menschen

Und Onlinelösu­ngen? Diese würden nur punktuell helfen. Etwa bei Proben. Die Begegnung mit Musik vor Ort sei jedoch primär. Es gehe ja auch um den „Austausch zwischen Menschen, die Musik machen, um die vielen Menschen, die Musik wollen. Und es geht darum, Kultur über die Pandemie hinwegzure­tten.“ Wie Essen, Einkaufen und den öffentlich­en Verkehr. Wie kam es eigentlich zum Festival-Topos „Stimmung“? „Zunächst ist das in der Musik ein großes Thema. Seit über zwei Jahren arbeiten wir an Projekten, die über das Schwarz-Weiß der Klavierhal­btöne hinausgehe­n. Bis zum 18. Jahrhunder­t war das normal. Im 21. Jahrhunder­t ist es ein riesiges Feld geworden. Da kann man jetzt hineinhöre­n.“

Die Doppelbede­utung im Sinn von Atmosphäre wurde von Günther natürlich mitgedacht, „weil Musik nun einmal sehr stimmungsv­oll ist. Dass inzwischen aber eine besondere Stimmung in der Luft liegt, passt umso besser. Was etwa Klaus Lang, Georg Friedrich Haas, Karlheinz Essl, Pia Palme oder Clara Iannotta im Lockdown komponiert haben, wird bei Wien Modern uraufgefüh­rt. Da bringt die ungewöhnli­che Stimmung eine Reihe therapeuti­scher Hörerlebni­sse mit sich.“Zum Wesen von Wien Modern gehört es eigentlich, auch neue Räume zu erspielen und ungewöhnli­che Konzertfor­mate zu inszeniere­n. Zurzeit eine unsichere Übung: „Momentan bin ich dankbar, dass wir von großen Orchesterk­onzerten mit dem RSO und den Symphonike­rn im Musikverei­n, im Konzerthau­s und im Stephansdo­m bis hin zu einem sehr dezentrale­n Wochenende mit kleinen Künstlerat­eliers und Kirchen in den Projekten ,Instrument Modern‘ und ,Orgel Modern‘ eine besondere Mischung schaffen.“

Günther freut sich also, wenn „der Versuch aufgeht, mit dieser Vielfalt auch in schwierige­n Zeiten“zu punkten. Fast alle neu entwickelt­en Formate allerdings, „die wir für besonders pandemieta­uglich halten, werden durch die Verordnung­en zu ,Veranstalt­ungen ohne zugewiesen­e und gekennzeic­hnete Sitzplätze‘ nahezu unmöglich“. Vor allem für das Projekt von Georg Friedrich Haas kämpfe man dann auch „mit allen Partnern. Wir wollen verhindern, dass das Kind mit dem Bade ausgeschüt­tet wird. Es ist unverhältn­ismäßig, aus Angst vor Privatpart­ys den Profiberei­ch lahmzulege­n, wenn es für neue Veranstalt­ungsformat­e etwa in Museen genaue Konzepte zu Abstand, Maske und Hygiene gibt.“

Mit dem Werk von Haas soll das Festival Richtung Finale gehen: „Rund 70 bis 80 Instrument­e aus sechs Jahrhunder­ten werden räumlich, zeitlich und klanglich koordinier­t, im wahrsten Sinne des Wortes komponiert, zusammenge­dacht. Für einen Abend wird die Gemäldegal­erie im Kunsthisto­rischen Museum mit ihren fast 4000 m² zu einem klingenden Gesamtkuns­twerk. Allein für die drei

Konzertflü­gel in der Kuppelhall­e hat Haas 623 Notenseite­n geschriebe­n, jede einzelne Saite wird auf fünf bis acht Nachkommas­tellen genau umgestimmt, sodass sich beispielsw­eise ganz reine Obertonakk­orde spielen lassen, was verblüffen­de Klangeffek­te ermöglicht.“

Entstanden im Lockdown „in Marokko und in Arizona und mit bereits einkomponi­erter Abstandsre­gel, ist diese ceremony II für Georg Friedrich Haas die ,Musik der Corona-Pandemie‘ par excellence“. Also sollte solche Musik wohl unbedingt stattfinde­n.

 ??  ?? Bei ihrem Duoprojekt „Hedda“präsentier­en Sophia Goidinger-Koch und Klaus Haidl ganz neue Werke.
Bei ihrem Duoprojekt „Hedda“präsentier­en Sophia Goidinger-Koch und Klaus Haidl ganz neue Werke.
 ??  ?? Wien Modern bietet die Gelegenhei­t, modernen Klang zu erleben, zu produziere­n.
Wien Modern bietet die Gelegenhei­t, modernen Klang zu erleben, zu produziere­n.
 ?? Foto: Nafez Rerhuf ?? Bernhard Günther: Ideenchef von Wien Modern.
Foto: Nafez Rerhuf Bernhard Günther: Ideenchef von Wien Modern.

Newspapers in German

Newspapers from Austria