In Frankreich grassiert Corona-bedingt die Armut
Die Folgen der Corona-Krise zeigen sich in Frankreich in aller Schärfe: Eine Million Menschen sind unter die Armutsgrenze gerutscht
Paris – Man könnte sich in einem schicken Pariser Café wähnen, mit einer livrierten Kellnerin, die freundlich fragt: „Tee oder Kaffee?“Bloß findet hier am schummrigen, feuchtkalten Île-de-Sein-Platz kein Kaffeekränzchen statt. In einer langen Schlange warten dunkle Silhouetten – gebeugte, aber auch viele junge Menschen, deren Gesichter unter Kapuzen und Mundschutz kaum auszumachen sind.
In der Mitte des Platzes verteilt das Hilfswerk Restos du Coeur („Restaurants des Herzens“) das Menü des Tages: Suppe, Teigwaren und Fisch, eine Banane. „Tee oder Kaffee?“, fragt eine Helferin, während sie Papiersackerln zum Mitnehmen präpariert. Sitzplätze gibt es nicht. Wer wie hier im 14. Bezirk 10.000 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche bezahlt hat, wünscht keine grölenden Clochards vor dem Fenster. Doch auf dem Platz gibt es keinen Lärm, und um 21 Uhr ist ohnehin Schluss mit der Essensausgabe: Dann beginnt im ganzen Großraum Paris die nächtliche Ausgangssperre. „Wir verpflegen Leute, die vor der Corona-Krise nie gedacht hätten, dass sie ihr Essen einmal nicht mehr bezahlen können“, sagt der Helfer Sébastien.
Elena zum Beispiel. Die Reinemachefrau aus der Ukraine will nicht klagen; sie rechnet nüchtern vor, dass die Miete ihres Zimmers im Vorort Nanterre 630 Euro im Monat betrage, ihr Verdienst aber maximal 800 Euro. „Viele meiner Kunden haben seit der Corona-Krise kein Geld mehr für eine Putzfrau“, sagt sie.
Vor ihr wartet ein Pensionist, offensichtlich froh, wenn es in der Schlange vorwärtsgeht – er zieht ein Bein nach. An sich sehr gesprächig, meidet er Fragen nach seinem Leben. Nur aus Nebensätzen geht hervor, dass er seit langem keinen Arzt mehr gesehen hat und einen Kleinkredit am Hals hat. Und Paris, wo er seit Jahrzehnten wohnt? „Es ist nicht mehr dasselbe.“
Der Vorstand der Restos du Coeur, Patrice Blanc, spricht von einer „Flutwelle, die langsam und stetig steigt“. Die Ausgabe bei den Volkssuppen habe in Paris gegenüber dem Vorherbst um 30 Prozent zugenommen. Das decke sich mit einer Berechnung des französischen Hilfswerkverbunds, die besagt, dass eine Million Menschen unter die Armutsgrenze gerutscht seien. Damit wäre die Schwelle von zehn Millionen Armen in Frankreich – bei 65 Millionen Einwohnern – überschritten.
Vom Andrang überfordert, ist der Staat auf private Hilfswerke angewiesen. Er stellt ihnen fast wöchentlich neue Gelder zur Verfügung – hier 65 Millionen für Obdachlose, dort 55 Millionen für die Volkssuppen. Am Wochenende gab Premierminister Jean Castex gezielte Neumaßnahmen bekannt: 150 Euro für Bezieher des Existenzminimums, Einstiegshilfen in die Arbeitswelt für Randständige, neue Notaufnahmeplätze für Mütter. (brä)