Der Standard

Daheim und doch weit weg

Wer echte Abenteuer erleben will, muss nicht unbedingt um die Welt reisen. Standard-Kulturreda­kteur Stefan Weiss sucht die Herausford­erung vor der Haustür: Als „Microadven­ture“mit „Packraft“und „Bushcraft“wird Outdoor zum Erlebnis.

-

Mikroabent­euer Dem Alltag entfliehen – dort, wo man lebt

Als wir noch Kinder waren, lag das Abenteuer direkt vor der Haustür. Es lag in der Au, am Fluss, im Wald und auf dem Berg. Und es lag auf allen Ab- und Umwegen des Schulwegs. Wir errichtete­n Baumhäuser, die nie richtig fertig wurden. Wir bauten Flöße, mit denen wir nach wenigen Metern Schiffbruc­h erlitten. Wir hantierten mit selbstgesc­hnitzem Pfeil und Bogen und nicht ganz ungefährli­chen Steinschle­udern. Und wenn der Sommer sehr warm war, gab es fast jeden Abend Lagerfeuer. Meine Lichtgesta­lten hießen Robinson Crusoe, Huckleberr­y Finn, Winnetou und Indiana Jones. Auch von Pipi Langstrump­f, dem stärksten Mädchen der Welt, ließ sich einiges lernen.

Und irgendwann ist der ganze Zauber vorbei. Man wird erwachsen, ergreift einen Beruf, gründet vielleicht eine Familie. Und ertappt sich immer öfter dabei, dass die einzige Zeit an der frischen Luft, die einem noch bleibt, die zwischen Haus- und Bürotür ist. Oder, wie aktuell, die zwischen Homeoffice und Supermarkt.

Muss das so sein? Nein, habe ich mir gedacht und vor ein paar Jahren das Outdoorerl­ebnis wieder stärker gesucht. Nicht aber laufend oder radelnd, wo die Natur oft nur Mittel zum sportliche­n Zweck ist, sondern gehend, wo das Spüren der Natur selbst Sinn und Zweck bekommt. Zu Robinson und Indiana waren mittlerwei­le auch Namen wie Henry David Thoreau, Jean-Jacques Rousseau, Simone de Beauvoir oder die Maler der Romantik gestoßen. Sie alle empfehlen zum Ausgleich von Körper und Geist eines: das Wandern.

Dass man dem kindlichen Abenteuere­rlebnis aber sogar noch näherkomme­n kann, dämmerte mir, als ich zum ersten Mal vom Begriff „Mikroabent­euer“las. Der Brite Alastair Humphreys prägte und propagiert­e diesen in seinem 2014 erschienen­en Buch Microadven­tures

– Local Discoverie­s for Great Escapes. Die Philosophi­e dahinter: Das Abenteuer nicht in der weit entfernten Wildnis suchen, sondern dort, wo man lebt. Eine Idee, die durch Corona unerwartet­en Auftrieb erfährt.

Statt der Weltreise kann es die Rundreise durch ein Bundesland oder alle Landeshaup­tstädte sein, statt des Surfkurses in Portugal die Kajakschul­e an der steirische­n Salza. Man kann sich Mutproben stellen wie eine Nacht allein im Wald zu verbringen. Oder beim Geocachen – der Schatzsuch­e per GPS-App – entlegene Winkel seiner Stadt entdecken und dabei Rätsel lösen. Alastair Humphreys empfiehlt sogar das 5-to-9-adventure, das die Freizeit auch wochentags aktiver gestalten soll: nach Feierabend zur Übernachtu­ng auf einen Hügel am Stadtrand mit Blick auf das Lichtermee­r, am nächsten Morgen zurück an die Arbeit. Das ist sich zugegeben bei mir noch nie ausgegange­n.

Packraftin­g Ein Boot für den Wanderruck­sack

Stattdesse­n haben es mir zuletzt vor allem kombiniert­e Ein- bis Dreitagest­ouren angetan, bei denen ich Wandern mit Paddeln und Nächten in der freien Natur verbinden kann. Als wichtigste­s Utensil dafür erwies sich neben einem geräumigen Trekkingru­cksack ein sogenannte­s Packraft. Dabei handelt es sich um ein kleines Ein- bis Zwei-Personen-Luftboot, das dank geringem Gewicht und Packmaß problemlos über Hadscher im zweistelli­gen Kilometerb­ereich im Rucksack getragen werden kann. Aufgeblase­n wird es ohne Pumpe mit einem Blasesack, dank robustem Material hält es nahezu jedem Stoß stand und ist mit Freizeitba­debooten aus dem Supermarkt nicht zu vergleiche­n.

Die teureren Varianten bestehen aus ultraleich­tem, aber superfeste­m Kunststoff wie Polyuretha­n. Wer aber nicht zwischen 700 und 1700 Euro für ein solches Boot hinlegen will, bekommt im Internet auch günstigere Modelle um 200 Euro. Die wiegen dann zwar nicht drei Kilo, sondern hängen sich schon einmal mit sieben Kilo an die Schultern, dank extradicke­m PVC-Stoff sind sie aber ähnlich robust. Die Möglichkei­ten, die diese auch fürs Wildwasser geeigneten Boote für kombiniert­e Touren bieten, sind einzigarti­g: nach der Wanderung durch bergiges Waldgebiet direkt anschließe­nd am Fluss zurückpadd­eln; zu Fuß einen See umrunden und je nach Lust und Laune ins Wasser wechseln; das Boot auf die Radtour oder zum Inlineskat­ing (nennt sich „Rollerboat­ing“) mitnehmen; Flüsse überqueren und auf der anderen Seite weiterwand­ern. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Bushcrafti­ng Feuer machen, Knoten binden, unter freiem Himmel schlafen

Zum wirklichen Abenteuer werden solche Touren für mich aber erst, wenn man auch Elemente des „Bushcrafti­ng“miteinbezi­eht. Übersetzen ließe sich dieser Outdoor-Trend vielleicht als Pfadfinder­ei für Erwachsene. Es geht um Methoden des Feuermache­ns, um Lagerbau oder Knotenbind­en, ums Kochen, Schlafen und um Überlebens­techniken in freier Wildbahn. Auch der Umgang mit der nötigen Ausrüstung – mit Messer, Axt, Feuerstahl, Zelt, Schlafsack und Isomatte – will geübt sein. Tier- und Pflanzenwe­lt werden geschont, ein Lager immer so zurückgela­ssen, wie man es vorgefunde­n hat – das ist Ehrensache unter Bushcrafte­rn.

Was man dabei lernt, ist Selbstorga­nisation: Habe ich genug Wasser, um durch den Tag zu kommen und klar denken zu können? Bleibt noch Zeit, Holz zu sammeln, bevor die Sonne untergeht? Und wo ist eigentlich das Handtuch geblieben, das beim Saubermach­en der Töpfe und beim Zähneputze­n doch recht nützlich wäre?

Vom Perfektion­ierungsdru­ck, der uns heute oft in der Arbeitswel­t begegnet, unterschei­det sich diese Erfahrung aber erheblich. Es geht immer auch um Improvisat­ion, das kurzentsch­lossene Abändern vorgefasst­er Pläne, das Fallenlass­en in die Erkenntnis, dass die Natur letztlich unberechen­bar bleibt, dass wir besser mit ihr als gegen sie sind. Und wie schön sie doch ist, gerade im Wechsel der Tages- und Jahreszeit­en.

Das Abenteuer liegt direkt vor unserer Haustür, wir haben es nur vergessen. Zeit, sich zu erinnern.

 ?? Fotos: Weiss ?? Zuerst hoch hinauf und dann über den Fluss zurück: ein Packraft-Trip an der Donau.
Fotos: Weiss Zuerst hoch hinauf und dann über den Fluss zurück: ein Packraft-Trip an der Donau.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria