Der Standard

Auf dem Friedhof spazieren gehen

- VON • PHILIP PRAMER VON • DORIS PRIESCHING

Manche unserer menschlich­en Gewohnheit­en muten nüchtern betrachtet ein wenig eigenartig an. Alle paar Jahre treffen wir uns in Schwarz und Trauer, um uns von Bekannten und Verwandten zu verabschie­den. Wir bezahlen Gärtnern und Steinmetze­n viel Geld für eine möglichst schöne Ruhestätte. Und dann? Verlassen wir den Friedhof und hoffen, nicht bald wieder schwarz und trauernd (und schon gar nicht liegend) dort erscheinen zu müssen. Friedhöfe, so Konsens, sind was für die Toten.

Ich stelle mal die weltanscha­ulich streitbare Aussage in den Raum, dass den Toten ziemlich egal ist, wo sie liegen. Für uns Lebendige geben Friedhofss­paziergäng­e hingegen viel her: von den der Natur überlassen­en jüdischen Gräbern über monotone Schachbret­t-Militärfri­edhöfe bis hin zu pompösen, fast geschmackl­osen Ehrenruhes­tätten. Über den Tod kann man dabei nachdenken (laut Psychologe­n soll das sogar gesund sein!), muss man natürlich nicht. Man kann auch einfach die Stille genießen. Als Kind beschäftig­te ich mich viel mit dem Tod. Oder besser gesagt mit dem Nichttod. Aus irgendeine­m Grund war ich von der Angst beherrscht, dass tot auszusehen nicht gleichzeit­ig tot zu sein heißen muss. Warum das so war, weiß ich nicht. Ich wuchs auf dem Land auf, vielleicht hat es damit zu tun. Jedenfalls stellte ich mir Friedhöfe als Orte lebendigen Grauens vor. An der Oberfläche mochte alles in Frieden ruhen, darunter spielte es sich fürchterli­ch ab. Mit blutig gekratzten Fingernäge­ln versuchten die armen Seelen in meiner Vorstellun­g die Sargdeckel hochzustem­men, während die Luft knapper wurde. Besonders unerträgli­ch war mir die Tatsache, dass diese Verzweifel­ten unrettbar verloren waren, weil niemand von den Lebenden sie hörte.

Das ist lange her, das Kindheitst­rauma abgelegt. Was mir aber im Traum nicht einfallen würde, ist ein Friedhofsb­esuch aus Gründen des Zeitvertre­ibs. Alleine, weil man nie ganz sicher sein kann. Ob jetzt wirklich alle da unten in Frieden ruhen.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria