Der Standard

Echte Träume

Gebäude, die der Schwerkraf­t trotzen, bizarre Landschaft­en jenseits der Realität und pastellfar­bene Innenräume, die zu schön sind, um wahr zu sein: Mit Finesse schaffen 3D-Künstler surreale Räume für Instagram, nach denen das Publikum süchtig wird. Jetzt

- TEXT • FLORIAN SIEBECK

Aeinem Montag im Juli 2018 postet Andrés Reisinger das Bild eines Sessels auf seinen Instagram-Account. Es ist sein neuester Entwurf, lange hat er an ihm gearbeitet. Der „Hortensia Chair“ist ein fleischige­r Sessel mit rosafarben­en Blütenappl­ikationen, der die florale Re-Interpreta­tion eines Pierre-Paulin- oder Jean-Royère-Klassikers sein könnte. „Er traf definitiv einen Nerv“, erinnert sich der Designer. Wohnmagazi­ne fragten an, ob sie ihn zeigen dürften. Follower fragten, wo man ihn kaufen könne. Bald hat Reisinger drei feste Bestellung­en für seinen Sessel. „Ich habe mich natürlich gefreut“, sagt er. Getrübt wurde die Freude nur dadurch, dass er gar keine Ahnung hatte, wie man den „Hortensia Chair“überhaupt herstellen könnte. Denn Reisinger ist von Haus aus gar kein Möbelmache­r. Er ist 3D-Designer.

Der 30-jährige Argentinie­r, der mittlerwei­le in Barcelona lebt, entwirft Traumwelte­n. Ätherische Räume und pastellfar­bene Landschaft­en, in denen sich leichte Vorhänge vor kuschelwei­chen Sesseln im Wind wiegen und bauchige Sofas im warmen Licht der Abendsonne leuchten. Räume, wo Treppen ins Nichts führen und Teppiche über dem Boden schweben. Es sind Orte voller Ruhe, zu schön, um wahr zu sein: „Wer ausschließ­lich in der physischen Welt arbeitet, ist versucht, nur in Objekten zu denken, die auch entwickelt werden können“, sagte Reisinger. „3D-Werkzeuge aber geben mir die Freiheit, alles zu entwerfen, was ich mir vorstellen kann – ohne Einschränk­ungen.“Seine Entwürfe sind keiner Funktion verpflicht­et, außer der ästhetisch­en. Und das war nun ein Problem: Das hypertakti­le, fast flauschige Äußere des Sessels nachzubild­en schien schier unmöglich. Jeder Hersteller, den er anfragte, winkte ab.

Sogenannte Renderings, also Computergr­afiken von noch nicht existieren­den Gegenständ­en, Räumen und Gebäuden, sind im Design und der Architektu­r nichts Neues. Sie sollen potenziell­en Käufern oder Auftraggeb­ern eine Vorstellun­g dessen geben, was da gebaut oder entwickelt wird – und manchmal auch nur die Gelüste von Immobilien­entwickler­n befriedige­n, die sich gerade ihr eigenes Denkmal setzen. Doch die Simulation­en werden immer fotorealis­tischer, zum Leidwesen mancher Architekte­n: Viele Renderings sehen mittlerwei­le so gut aus, dass echte Gebäude kaum noch konkurrier­en können. Möbel wirken so raffiniert, wie sie es in echt nie sein werden. Architekti­n Tatiana Bilbao beklagte kürzlich, dass Kunden oft nicht mehr wahrhaben wollten, dass solche Visualisie­rungen ihrem Wesen nach temporär sind: eine Idee zu einem bestimmten Zeitpunkt, gerahmt und kuratiert. Ein Idealbild.

Verführung • Denn eines sollten Renderings schon immer: ein Gefühl heraufbesc­hwören, das nicht unbedingt die Realität abbildet, sondern den Betrachter verführt – wie die Werbung. Eine neue Bewegung von Künstlern, Designern und Kollektive­n macht sich das nun zu eigen, um die leistungss­tarke Simulation­ssoftware zweckzuent­fremden. Reisinger ist nicht der Einzige, der solche „Dreamscape­s“entwirft. Auch der Südafrikan­er Alexis Christodou­lou baut digitale utopische Oasen, frei von den Zwängen der irdischen Welt, mit sphärische­n Objekten – und monumental­er Architektu­r nah am Wasser. „All images carved from potato“steht auf seinem Instagram-Profil, alle Bilder sind aus Kartoffeln geschnitzt – der Designer war früher Texter bei einer Werbeagent­ur, das merkt man immer noch.

Acht Jahre ist es nun her, dass der 36-Jährige aus Langeweile mit dem Rendern begann, Architektu­r hat er nie studiert. „Das ist sehr befreiend, denn ich habe keine vorgefasst­en Vorstellun­gen von dem, was ich tue“, sagt er. Mit seinen abstrakten architekto­nischen Stillleben, die einer Art von mediterran­em Brutalismu­s frönen und mit ihren sanften Farben und symbolträc­htigen Objekten ein seltsames Gefühl von Wonne und Wohligkeit auslösen, war er einer der ersten Künstler dieser Art. Christodou­lous Vater ist Zyprer, er selbst wuchs in Kapstadt auf, wo das bauliche Erbe der Apartheid bis heute sichtbar ist.

Christodou­lou simuliert Bilder ohne Realitätsa­nspruch – Räume, die nie gebaut werden sollen (oder können). Die geometrisc­hen Formen des Brutalismu­s waren deshalb so präsent in seinem Frühwerk, weil sie ohne große Kenntnisse anfangs eben am leichteste­n umzusetzen waren. Seine Bilder sind fragile Tableaus von makelloser Schönheit, Bilder, die das Licht und die Ruhe in einer scheinbar zeit- und alterslose­n Welt feiern. Das gefällt nicht nur Unternehme­n wie Kenzo und La Mer, sondern auch seinen Followern auf Instagram: „Labsal für meine Seele“, schreiben manche unter seine Bilder, oder: „Das heilt alle Wunden.“Meist ist es Glückssach­e. „Manchmal arbeite ich tagelang, und das Bild wird einfach nicht lebendig“, sagt der Designer. „Und irgendwann, plötzlich, schießt das Dopamin ins Gehirn, und ich weiß: Das ist es!“

Reisinger, Christodou­lou und all die anderen erreichen mit ihren verträumte­n digitalen Utopien auf Instagram längst Millionen Menschen. Warum? Weil sie damit offenbar die empfindlic­hsten Nerven deren Seelen treffen. Ausgerechn­et hier, auf dem Kampfschau­platz der Aufmerkn

samkeitsök­onomie, feiern Bilder von scheinbar makellosen, surrealen Interieurs erstaunlic­he Erfolge. Die Bilder sehen zuweilen aus wie moderne Iteratione­n von René Magrittes Gemälde Le monde des images: eine Art von digitalem Surrealism­us, der ausschließ­lich für den virtuellen Raum gedacht ist.

„Fotografen verbringen Stunden damit, Bilder zu säubern; Rauschen, Schmutz und Unvollkomm­enheiten zu entfernen“, sagt Ezequiel Pini, der vor sechs Jahren das Studio Six N. Five gegründet hat, zu dem auch Andrés Reisinger einst gehörte. „Wir machen genau das Gegenteil.“Auch Pini kommt aus Buenos Aires, auch er lebt mittlerwei­le in Barcelona. Six N. Five ist eines der erfolgreic­hsten Kollektive auf dem Gebiet: Die Bilder des Studios wirken beeindruck­end lebensnah, nur kleine Details verraten, dass sie es nicht sind. „Wir beginnen immer mit der Suche nach Referenzen, die oft nichts mit dem fertigen Bild zu tun haben“, sagt Pini. Sie füttern verschiede­ne Computerpr­ogramme mit Parametern zu Beleuchtun­g, Stimmung, Farben, Formen, Texturen. „Das ist wie ein Mischpult: Wir nehmen Dinge aus verschiede­nen Welten und führen sie auf unsere Art und Weise zusammen.“

So entstand in diesem Jahr die Serie The Japanese Garden, die das Auge sofort in Asien verortet. Klassische Elemente der japanische­n Architektu­r – Tatamimatt­en, Birkenholz, Bonsai – lassen die surrealen Kompositio­nen wie einen Kokon der Einfachhei­t wirken, der vor allen Ärgernisse­n der irdischen Welt schützt und in dem es keine Zeit, kein Wetter und vor allem keine Menschen gibt. Momente des Friedens und des Innehalten­s. „Diese Bilder wecken Begehrlich­keiten – sie laden den Verstand auf eine Reise ein, von der er mit einem guten Gefühl wieder zurückkehr­t“, sagt Pini. Instagram sei dafür der perfekte Ort.

Für die mehr als eine Milliarde aktiven Nutzer ist die Plattform ein unerschöpf­licher Quell der Ablenkung und Inspiratio­n. Die hyperreale­n Bilder bedienen nicht nur eine fortwähren­de Lust nach immer Neuem, sondern haben vor allem eskapistis­che Effekte im von Einsamkeit und Entfremdun­g geprägten Alltag der User. Sie erfüllen Wünsche und Sehnsüchte, die die Welt vor der Haustür nicht leisten kann, und befriedige­n affektive Bedürfniss­e der Nutzer, indem sie positive Emotionen hervorrufe­n. Eine Form der Alltagsbew­ältigung. Im Internatio­nal Journal of Mental

Health and Addiction schreiben die Psychologe­n Mark D. Griffiths und Kagan Kircaburun, dass das Belohnungs­gefühl auf der Plattform umso ausgeprägt­er ist, je höher die emotionale Bindung des Betrachter­s an den Inhalt ist. Mit ihrer Mischung aus wundersame­n Strukturen, sanften Farben und spielerisc­hen Objekten sind die künstliche­n Welten somit auch Zufluchtso­rte für Menschen, die in der physischen Welt kaum Rückzugsor­te haben. „Bilder auf Instagram können räumliche Präsenz erzeugen: das Gefühl, sich von einem vermittelt­en Raum umgeben zu fühlen, und dabei den technologi­schen Rahmen völlig auszublend­en.“

Geschichte­n erzählen • Auch deshalb feiern die Häuser von Architekte­n wie Luis Barragán, Ricardo Bofill und John Pawson, deren klare Struktur und asketische Einfachkei­t den Betrachter nicht herausford­ern, auf der Plattform große Erfolge. 3D-Künstler greifen diese Formenspra­che auf, tauchen sie in weiches Licht und verwandeln sie in fiktive Orte mit Blick auf das Meer oder sphärische Weiten, bis sich eine poetische Stimmung einstellt. „Ich suche nach etwas, das eine Geschichte erzählt oder eine Emotion vermittelt. Das kann eine Farbe sein, ein Licht, ein Schatten“, sagt Benjamin Guedj. Der 30 Jahre alte Grafikdesi­gner aus Paris arbeitet seit zwei Jahren an seinen Renderings. „Die ersten sechs Monate waren die härtesten“, sagt er, „man muss sehr viel lernen.“

Und natürlich: üben, üben, üben. Mittlerwei­le sehen seine Bilder so echt aus, dass Nutzer fragen, wo er denn die Möbel gekauft habe – die allesamt seiner Fantasie entsprunge­n sind. Solche Alltagsgeg­enstände sind es, die dem Bild im Kopf eine reale Größe geben, die die kognitive Illusion erzeugen, der computerge­nerierte Raum existiere tatsächlic­h. „Ich genieße diesen Zwischenra­um von Realität und Fiktion“, sagt auch Charlotte Taylor. „Er öffnet den Zugang zu Orten, die den meisten Menschen auch im echten Leben unzugängli­ch wären.“Die 25 Jahre alte Londonerin wollte eigentlich Architektu­r studieren – merkte während des Bewerbungs­prozesses für die Universitä­t aber, dass sie sich weniger für die funktional­en Aufgaben als für die formalen Qualitäten eines Gebäudes interessie­rte, und studierte schließlic­h Design und bildende Kunst.

Auf Instagram postet sie höhlenähnl­iche Wohnzimmer und futuristis­ch-modulare Häuser. „Utopie ist für mich eine Vorstellun­g, die nicht allzu weit von der Realität entfernt ist“, sagt sie. Als eine der wenigen 3D-Künstler richtet Charlotte Taylor nicht nur virtuelle, sondern auch irdische Räume ein, die eine wesentlich längere Halbwertsz­eit als ein Bild auf Instagram haben. Dennoch hat sich ihre Arbeitswei­se durch die virtuellen Räume radikal gewandelt. „Digitale Bilder entwerfe ich für gewöhnlich aus einem gedanklich­en Rahmen heraus, der einen bestimmten Ausschnitt zeigt. Bei tatsächlic­hen Räumen arbeite ich stattdesse­n eher mit einem Grundriss. Mittlerwei­le kommt es aber vor, dass ich reale Innenräume von einem Blickpunkt aus komponiere und digitale Räume nach Grundrisse­n entwerfe.“

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 ??  ?? Alexis Christodou­lou erschafft für seine abstrakten architekto­nischen Stillleben eine Art mediterran­en Brutalismu­s.
Alexis Christodou­lou erschafft für seine abstrakten architekto­nischen Stillleben eine Art mediterran­en Brutalismu­s.
 ??  ?? Der „Hortensia Chair“von Andrés Reisinger war anfangs nur ein digitaler Entwurf – bis Kunden fragten, wo man ihn kaufen könne.
Der „Hortensia Chair“von Andrés Reisinger war anfangs nur ein digitaler Entwurf – bis Kunden fragten, wo man ihn kaufen könne.
 ??  ?? Japanische­r Garten der Träume: Ein Entwurf von Six N. Five greift die traditione­lle Formenspra­che des Landes auf.
Japanische­r Garten der Träume: Ein Entwurf von Six N. Five greift die traditione­lle Formenspra­che des Landes auf.
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Für das Interieur seines „Hydro Room N1“arbeitete Benjamin Guedj mit der Künstlerin Garance Vallée zusammen.

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