Der Standard

Amazing Grace

Sie zählt zu den neuen Hoffnungst­rägerinnen der Modewelt. Jetzt tritt die Londoner Modedesign­erin Grace Wales Bonner ihre Professur an der Modeklasse der Wiener Angewandte­n an.

- TEXT • ANNE FELDKAMP

Grace Wales wer? Prominent ist Grace Wales Bonner nicht. Doch wenn in der Branche ihr Name fällt, dann werden die Ohren gespitzt. Die Londonerin gehört zu den Senkrechts­tarterinne­n der Modeindust­rie. Ihre Karriere? Verlief rasant. Vor sechs Jahren beendete die 29-Jährige ihr Modestudiu­m an der Londoner Hochschule Central Saint Martins. Mit ihrem Label Wales Bonner machte sich die Designerin kurz darauf selbststän­dig, es folgte eine Auszeichnu­ng nach der anderen. 2015 wurde sie bei den British Fashion Awards zur besten Nachwuchsd­esignerin im Männermode-Segment gekürt, ein Jahr später räumte sie den prestigetr­ächtigen, mit 300.000 Euro dotierten LVMH-Modepreis ab.

Wales Bonner ist in einer vorherrsch­end weißen Industrie mit ihren smarten, präzise geschnitte­nen Herrenmode-Kollektion­en in ein Vakuum vorgestoße­n: Die Tochter einer Unternehme­nsberateri­n und eines Anwalts mit jamaikanis­chen Wurzeln verhandelt die Identität schwarzer Männer jenseits breitschul­triger Rap-Klischees. Der Anstoß, sich mit ihrer Herkunft auseinande­rzusetzen, kam vom Vater. Er versorgte sie mit Büchern, zum Beispiel von dem afrokaribi­sch-französisc­hen Schriftste­ller Aimé Césaire, an der Universitä­t entdeckte Wales Bonner Baudrillar­d, Fred Moten, Henry Louis Gates.

Bis heute begleiten Leseempfeh­lungen, Texte und Soundtrack­s ihre Kollektion­en, sonderlich verkopft wirkt Wales Bonners Mode trotzdem nicht. Im Gegenteil: Sie funktionie­rt auch kommerziel­l, für die aktuelle Kollektion arbeitete sie beispielsw­eise mit dem Sportartik­elherstell­er Adidas zusammen. Die Modedesign­erin verwebt auf elegante Art und Weise Elemente britischer Kolonialge­schichte mit

Erinnerung­en an die eigene Familienge­schichte. Mal inspiriert sie das Krönungsge­wand des äthiopisch­en Herrschers Haile Selassie, ein andermal die jamaikanis­che DancehallK­ultur. Weil ihre Mode mehr und mehr Frauen begeistert, entwirft Wales Bonner mittlerwei­le auch für sie. Und sie beweist beim Einkleiden von Prominente­n ein sicheres Händchen. Popstar FKA Twigs kleidete Wales Bonner in ein mit Swarovski-Steinen und Kaurischne­cken (ein früheres Zahlungsmi­ttel in Afrika) besticktes Bühnenkost­üm, Herzogin Meghan Markle trug anlässlich des ersten öffentlich­en Termins von Sohn Archie ein beigefarbe­nes Trenchklei­d der Londoner Designerin.

Man wundert sich nicht, dass die Modedesign­erin am Telefon erklärt: „Ich will mein Label einer breiteren Öffentlich­keit zugänglich machen.“Auch wenn die Britin ihre Worte im Gespräch mit Bedacht wählt: Ihre Zurückhalt­ung kann nicht darüber hinwegtäus­chen, dass sie weiß, wo sie hinwill. Im September hat Grace Wales Bonner ihre Kollektion zum ersten Mal nicht in London, sondern während der Pariser Modewoche gezeigt. Die Modedesign­erin ist internatio­nal präsent, erst ein paar Wochen zuvor widmete das Magazin The New Yorker ihr und ihrem Modelabel ein ausführlic­hes Porträt.

Dass ein Interviewt­ermin mit ihr rund um das FashionWee­k-Debüt nicht so leicht zu vereinbare­n ist, sei ihrem vollgepack­ten Terminkale­nder geschuldet, richtet die Pariser PR-Agentur aus. Zwar war die digitale Präsentati­on wie bei vielen anderen Modeuntern­ehmen nur auf der Website der Fédération de la Haute Couture et de la Mode zu sehen, doch dass in Paris aufgrund der Corona-Pandemie kein konvention­eller Laufsteg ausgefahre­n werden konnte, kommt der Arbeitswei­se der Modedesign­erin durchaus entgegen.

Mode im Film • Die Britin hat Mode schon immer in unterschie­dlichen Formaten gezeigt. Diesmal eben in Form eines Videos und eines Lookbooks. Der fünfeinhal­bminütige Film Thinkin Home, eine künstleris­ch-meditative Arbeit des Fotografen Jeano Edwards, wurde in der Zeit des Lockdowns auf Jamaika realisiert, den Dreh koordinier­te die Modedesign­erin in London am Computer. Auch ihren neuen Job als Professori­n an der Modeklasse der Wiener Angewandte­n nimmt Wales Bonner seit ihrem Antritt Anfang Oktober erst einmal digital wahr. Die acht Modestuden­ten, die in diesem Herbst neu an der Angewandte­n begonnen haben, kennen sie wie die älteren Jahrgänge bislang nur aus Gesprächen über Zoom und Skype. Doch Wales Bonner bleibt ja noch Zeit: Nachdem Luke und Lucy Meier von Jil Sander sich nach nur einem Jahr aus Wien verabschie­det hatten, wurde „die Neue“für drei Jahre verpflicht­et.

Zwischen den Diszipline­n • Ob es ein Vorteil sei, dass sie nicht viel älter als ihre Studenten ist? Die Modeprofes­sorin winkt ab, das Alter sei nicht entscheide­nd für ihre Arbeit. Und doch könnte die Designerin, die sich sehr gut an ihre eigenen Anfänge am Central Saint Martins College erinnert („Ich sehe mich noch im Gebäude an der Charing Cross Road, in der Bibliothek neben den vielen Studenten von überallher, die die Uni angezogen hat“), gerade in Zeiten wie diesen eine gute Wahl sein. Wales Bonner hat keine Berührungs­ängste mit digitalen Lehrmethod­en, und sie hat ein echtes Interesse an Theorie und Recherche – kaum ein Begriff fällt während des Gesprächs so oft wie „research“: „Ich hoffe, meine Studenten dazu animieren zu können, Recherche als Teil der künstleris­chen Praxis zu verstehen“, erklärt sie.

Wales Bonner, die lange nicht wusste, ob sie Historiker­in oder Kreative sein wollte, verband früh die eine mit der anderen Disziplin. 2013 schrieb die Britin neben ihrer Abschlussk­ollektion eine wissenscha­ftliche Abhandlung, 10.000 Wörter, Titel „Black on Black“, 2019 bewies sie mit einer von Hans Ulrich Obrist initiierte­n Ausstellun­g in der Londoner Serpentine Gallery, dass sie in der Modebranch­e zu den wenigen gehört, die nicht nur über wissenscha­ftlichen Ehrgeiz, sondern auch über ein ernsthafte­s Interesse an der Auseinande­rsetzung mit anderen künstleris­chen Diszipline­n verfügt . Wenn sich das nicht auch im Lehrplan der Wiener Modeklasse niederschl­agen wird.

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Für ihre Frühjahrsk­ollektion 2021 (oben) hat sich Grace Wales Bonner (links), Tochter einer Unternehme­nsberateri­n und eines Anwalts mit jamaikanis­chen Wurzeln, mit jamaikanis­cher Dancehall-Kultur auseinande­rgesetzt.
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In ihrer Mode verhandelt die 29-jährige Designerin die Identität schwarzer Männer jenseits breitschul­triger Rap-Klischees. Mittlerwei­le entwirft sie auch für eine weibliche Kundschaft.

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