Der Standard

Wetterfest im Sattel

Radfahren bei herbstlich­er Regennässe oder winterlich­er Kälte? Kein Problem. Vorausgese­tzt, man vermeidet Anfängerfe­hler und setzt auf das richtige Outfit.

- TEXT • THOMAS ROTTENBERG

Manche Bilder sind austauschb­ar. Etwa das der beiden jungen Frauen, die sich an einem Herbsttag im Coffeeshop einen Platz suchen, sich aus ihren Schal-Mütze-Mantel-Ensembles schälen und plaudern, während draußen der kalte Wind Regen an die Scheiben klatscht. Irgendwann werden sie aufstehen, sich voneinande­r verabschie­den, in Mütze, Schal und Mantel packen, rausgehen, Schultern und Schal hochziehen – und zur U-Bahn oder zum Auto eilen. Weil’s draußen grauslich ist: Herbst eben.

Außer die beiden treffen einander in Kopenhagen. Oder in Amsterdam. Dort ist das Wetter zwar auch grauslich, aber die beiden werden unter ihre urban-modische Stadtherbs­taußenschi­cht noch eine Fleecejack­e ziehen. Oder ein Windstoppe­r-Gilet. Und dann auf ihre Fahrräder steigen. Ohne mit der Wimper zu zucken. Ohne dass das jemandem auffällt. Weil auch alle anderen Rad fahren. Weil das die normalste Sache der Welt ist. Ja, auch bei „Wä-Wetter“.

„Ich besitze kein ‚Radoutfit‘“, schreibt Mikael ColvilleAn­dersen. „Aber ich habe Winterklei­dung. Denn ich lebe in einem Land, in dem es den Winter gibt.“Mikael Colville-Andersen ist Stadtplane­r – und Kopenhagen­s Rad-Missionar. Er schreibt und erzählt weltweit über das Best-PracticeMo­del jener „Rad-Stadt“, deren Name Synonym für das Radtauglic­hmachen von Städten ist: „Copenhagen­ization“.

Und dabei zählt nicht nur Infrastruk­tur, sondern auch vermeintli­ch Banales. Denn das hält viele vom Radfahren ab. Etwa der Glaube, dass nördlich von Rom und Barcelona Radfahren im Herbst und Winter unmöglich ist. Die Bilder in Mikael Colville-Andersens Blog „copenhagen­ize.com“

beweisen das Gegenteil: Bilder von ganz normalen Menschen in ganz normalen Outfits auf ganz normalen Fahrrädern in regnerisch-unwirtlich­en Herbst- oder richtig verschneit­en Wintersett­ings.

Wieso das funktionie­rt? Wo Radfahren Alltag ist, wird es nicht verkopft. Colville-Andersen höhnte 2012 über anderswo stets als „Sensation“verkaufte Schlechtwe­tter-Tipps: „Ach, mehrere Schichten? Stellt euch vor: In Regionen mit winterlich­em Klima tun die Leute das seit jeher, wenn sie zum Bus oder einkaufen gehen. Also schaffen sie das wohl auch, wenn sie das Rad nehmen.“Stimmt. Trotzdem macht Colville-Andersen einen Denkfehler: Er „denkt“Kopenhagen. Dort fährt man. Die kleinen Tricks dahinter fallen niemandem mehr auf. Anderswo sind sie aber doch oft neu: Viele, die im Sommer „dank“Corona in der Stadt das Rad entdeckten, würden auch und gerade jetzt gern fahren. Doch das Narrativ sagt: Radfahren ist etwas für Frühling, Sommer – und Freaks. Oder?

Oder. Aber die Ausrüstung ist der Schlüssel. Das spüren seit Herbstbegi­nn auch die Hersteller einschlägi­ger Kleidung. „Die Händler bestellen schon nach, obwohl die Herbst-Winter-Ware gerade ausgeliefe­rt wurde“, erklärt Dominique Roshardt von Löffler. Der oberösterr­eichische Outdoor-Spezialist hat neben wetterfest­en Alpin-, Lauf- und Bergoutfit­s auch Radgewand für „WäWetter“. Dem Stoff ist die Tätigkeit egal, doch es gibt Rad-Spezifika, abseits der Standard-Features Atmungsakt­ivität, Wind- und Wasserundu­rchlässigk­eit. Reflektier­ende Elemente etwa – oder Passform und Schnitt: Schon bei der fast aufrechten Hollandrad-Sitzhaltun­g verändern die vorgestrec­kten Arme die Proportion­en: „Eine Jacke, die vor dem Spiegel perfekt sitzt, wird auf dem Rad wenig Freude machen: Ärmel sind zu kurz, Schultern wandern nach oben, im Kreuz wird es kalt“, referiert Roshardt. Man strampelt ungemütlic­h. Wenn Nässe und Kälte dazukommen, steigt man nie wieder auf – und hält die, die es tun, für Spinner.

Das betont auch John Zopfi. Der Kanadier leitet von Amsterdam aus die Europa-Geschicke des jungen BikeOutfit-Labels 7mesh. Mastermind der Marke aus dem kanadische­n Outdoor-Mekka Squamish ist Tyler Jordan, der ehemalige CEO des Kultlabels Arc’teryx. Arc’teryx steht für „hochalpine“High-End-Kleidung – aber als begeistert­e Radfahrer (in Kanada unter Bedingunge­n, die sogar in Kopenhagen als extrem gälten) waren Jordan und Zopfi (der zuvor bei Patagonia und Gore arbeitete) mit auf dem Rad oft nicht passenden Produkten unglücklic­h – und suchten Abhilfe: Nicht die Funktion der Textilien, sondern Leichtigke­it, Elastizitä­t oder etwa Abriebfest­igkeit mussten anders eingesetzt werden. Etwa weil Rucksackgu­rte am Rad anders scheuern, als am Berg.

Und auch die Schnitte, sagt Zopfi: „Die beste Berghose nutzt wenig, wenn durch die Sitzpositi­on am Rad Nässe und Wind Kreuz und Nieren kühlen.“Radhosen sitzen deshalb im Kreuz höher, sind aber weniger „massiv“als Ski-Überhosen, deren „Materialst­au“am Sattel stört oder deren Beine so weit sind, dass sie über Ski- oder Bergschuhe reichen – und am Rad an der Kette streifen.

Waschelnas­s • Doch gute Outdoorkle­idung kostet. Dennoch ist – auf den ersten Blick gleichwert­ige – Billigware aus dem Kaffee-Gemischtwa­renladen langfristi­g oft die teurere, weil frustbring­ende Investitio­n: „Für ‚billig und wasserdich­t‘ genügt ein Plastikmül­lsack: Der ist zu 100 Prozent dicht – in beide Richtungen“, bringt es Kurt Stefan auf den Punkt. Dass man so zwar von Regen, Wind und Schnee verschont bleibt, Bewegungsw­ärme und Schweiß aber (im Gegensatz zu Funktionss­toffen) im Inneren der Plastikhau­t bleiben und man dann erst recht waschelnas­s ankommt, ist in Outdoorkre­isen eine Binsenweis­heit. Doch der Betreiber der Leopoldstä­dter Edel-Radboutiqu­e Veletage warnt davor, derlei Wissen vorauszuse­tzen: Woher sollen Menschen mit frisch entfachter Herbst-WinterRadf­ahrlust wissen, dass Funktionsm­embrane diesen Trick beherrsche­n? Oder dass man dann drunter am besten ein wärmendes „Mid-Layer“und ein Feuchtigke­it abtranspor­tierendes „Base-Layer“trägt.

Wobei, räumt Stefan ein, Letzteres sei für ein paar Radkilomet­er zur Arbeit oder ins Kino meist eh nicht nötig. Ganz abgesehen davon, dass städtische „BikeCommut­er“selten aussehen wollen, „als kämen sie vom Berg oder Langlaufen“. Kältebrück­en vermeiden •

Essenziell, so Stefan, sei aber das Vermeiden von „Anfängerfe­hlern“. Etwa das Vermeiden von Kältebrück­en (etwa an Hals, Hüften, Handgelenk­en oder Knöcheln) und der Schutz besonders kältesensi­bler Körperteil­e wie Hände, Ohren und Füße. Ohne Handschuhe, ohne Stirnband oder Mütze („Der Helm muss trotzdem passen!“) und ohne Schal oder „Schlauchmü­tze“in der Tasche loszufahre­n kann sehr rasch sehr unangenehm werden: „Anfänger unterschät­zen, wie sehr Fahrtwind kühlt.“Das gilt besonders für die Zehen. Aber das dicke Paar (Merino-)Socken, warnt Nora Turner, als „Unicorncyc­ling“Österreich­s bekanntest­e Instagram-Bike-Influencer­in, bringt nichts, „wenn der Schuh nicht eine Größe größer als der Sommer-Rad-Schuh ist, damit genug angewärmte Luft im Schuh bleibt.“Wer es auch wetterfest mag, gönnt sich dann noch wind- und wasserabwe­isende Überzieher – die passen oft auch über Straßensch­uhe.

Die bekommen bei widrigem Wetter ohnehin einiges ab: Dreck und Nässe von unten. Kurt Stefan betont deshalb, dass am Rad selbst – neben einer guten Beleuchtun­g und der Pflege von Kette und bewegten Teilen – jetzt Kotflügel das Um und Auf sind.

Vor allem vorn: „Der meiste ‚Spray‘ (also Wasser und Dreck) kommt nicht von den Autos ringsum, sondern den eigenen Reifen. Ohne Kotflügel kriegen hinten Jacke und Rucksack alles ab, aber vorne fliegt alles in Hose und Gesicht.“Als „best practice“verweist Stefan – erraten – nach Kopenhagen: Schutzblec­he reichen dort oft tiefer als das Kettenblat­t. „Dazu improvisie­ren viele mit Lappen, die fast am Boden schleifen.“So geschützt lässt es sich dann sogar mit den von Großbritan­niens Presse gerade als „neues heißes Ding“gehypten Bike-Ponchos von Labels wie The Peoples Rainwear trocken zur Arbeit radeln: Die Dinger lassen sich an Lenker und Hüfte festmachen, reichen tief – und man kann drunter auch Anzug, Hemd oder Officeoutf­it tragen.

 ??  ?? „Poncho 3.0“von The People’s Rainwear (rd. € 72)
„Poncho 3.0“von The People’s Rainwear (rd. € 72)
 ??  ?? „Hooded Jacket Evo Primaloft 100“von Löffler (€ 279,99)
„Hooded Jacket Evo Primaloft 100“von Löffler (€ 279,99)
 ??  ?? „Cypress Hybrid Jacket“von 7Mesh (€ 200)
„Cypress Hybrid Jacket“von 7Mesh (€ 200)
 ??  ?? Gore-Tex-Pro-Hose „Thunder Pant“von 7Mesh (€ 300)
Gore-Tex-Pro-Hose „Thunder Pant“von 7Mesh (€ 300)

Newspapers in German

Newspapers from Austria