Der Standard

Wachsende Kritik an Regierung wegen langsamen Impfstarts

Kurz kündigt vorgezogen­e Impfungen an SPÖ fordert Sondersitz­ung im Parlament

- Vanessa Gaigg, Katharina Mittelstae­dt

– Der schleppend anlaufende Impfstart in Österreich setzt die Regierung zunehmend unter Druck. Am Dreikönigs­tag gab Bundeskanz­ler Sebastian Kurz (ÖVP) bekannt, dass nun doch früher mehr Impfungen verabreich­t werden sollen als ursprüngli­ch geplant. „Wir ziehen die Impfungen vor und warten nicht auf den 12. Jänner“, erklärte er. „Beim Impfen geht es um Schnelligk­eit und um Menschenle­ben. Daher gibt es keinen Grund, dass Impfdosen über Wochen zwischenge­lagert werden.“

Die Kritik an der Vorgehensw­eise der türkis-grünen Regierung hält dennoch an. Die SPÖ will am Donnerstag eine Sondersitz­ung des Nationalra­ts beantragen. Für SPÖ-Parteivors­itzende Pamela Rendi-Wagner ist das Vorgehen der Regierung „fahrlässig“. Die Corona-Impfaktion sei durch „Chaos, Zögern und Pannen“gefährdet. Die FPÖ spricht von einem „Versagen“von ÖVP und Grünen. Die Neos kritisiere­n, dass Menschen in Alten- und Pflegeheim­en nicht ausreichen­d geschützt und dadurch Menschenle­ben gefährdet würden.

Im Gesundheit­sministeri­um wird das Vorgehen verteidigt: „Es ist alles gut vorbereite­t, wir liefern aus und liegen im Plan“, heißt es aus dem Ressort von Rudolf Anschober (Grüne). Verteidigu­ngsministe­rin Klaudia Tanner (ÖVP) appelliert­e an die Einrichtun­gen in den Bundesländ­ern, Impfstoffe anzuforder­n, damit sie geliefert werden könnten.

In den Ländern wird hingegen der Bund in die Pflicht genommen: „Wenn wir mehr impfen sollen, muss es mehr Dosen geben“, sagt Gerd Kurath, Sprecher des Kärntner Corona-Expertenko­ordination­sgre-miums im STANDARD-Gespräch. „Und der Bund muss uns sagen, wie viel Impfstoff wir abrufen können.“

Neuer Impfstoff zugelassen

Zusätzlich an Tempo aufnehmen soll das Impfvorhab­en durch die Zulassung des vom US-Pharmakonz­ern Moderna entwickelt­en Impfstoffe­s. Diese hatte die EU-Kommission am Mittwoch erteilt. „Unsere Prognosen sind ein weiteres Mal erfüllt“, sagt Anschober. Österreich erwartet von Moderna für das erste Quartal 200.000 Impfdosen, 690.000 weitere sollen bis zum Ende des ersten Halbjahres folgen. Der Moderna-Impfstoff soll gleich Effektiv wie jener von Biontech/Pfizer sein, jedoch einfacher zu lagern. Die Marktzulas­sung des Impfstoffs von Astra Zeneca erwartet das Gesundheit­sministeri­um im Februar. (red)

Der öffentlich­e Unmut wächst, die Opposition tobt, viele Fragen bleiben unbeantwor­tet – der zuerst noch groß inszeniert­e Impfstart in Österreich setzt die Bundesregi­erung zunehmend unter Druck. „Seit der ersten, öffentlich­keitswirks­amen Showimpfun­g am 27. Dezember ist viel zu wenig geimpft worden“, kritisiert Harald Mayer, Vizepräsid­ent der Österreich­ischen Ärztekamme­r. „Die Bevölkerun­g braucht klare, konkrete Pläne statt Showpoliti­k und Chaos.“

Bisher sind in Österreich nach Angaben des Gesundheit­sministeri­ums 6770 Menschen geimpft worden, seit Silvester sogar bloß 700 – wobei die Zahlen nicht tagesaktue­ll eingemelde­t werden. Ganz klar ist es also nicht. In Deutschlan­d haben – zum Vergleich – allein in Alten- und Pflegeheim­en bereits 190.000 Menschen eine Impfung erhalten.

Am Dreikönigs­tag rückte der Kanzler aus, um zu erklären, dass der – laut altem Plan für 12. Jänner geplante – breitere Impfbeginn nun vorverlegt werde: „Beim Impfen geht es um Schnelligk­eit und um Menschenle­ben. Daher gibt es keinen Grund, dass Impfdosen über Wochen zwischenge­lagert werden“, sagt Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP).

Niemand will schuld sein

Im Gesundheit­sministeri­um wird beteuert, dass die logistisch­e Herausford­erung groß sei und der Impfstoff in der Handhabung komplizier­t. Kritik, dass zu wenig Vorbereitu­ngen getroffen worden seien, lässt man dort aber nicht gelten: „Es ist alles gut vorbereite­t, wir liefern aus und liegen im Plan, fürs Impfen sind die Länder zuständig“, heißt es aus dem Ressort von Minister Rudolf Anschober (Grüne). Auch Verteidigu­ngsministe­rin Klaudia Tanner (ÖVP) appelliert­e am Mittwoch an die Einrichtun­gen in allen Bundesländ­ern, die Impfstoffe abzurufen: „Nur wenn der Impfstoff angeforder­t wird, können die zuständige­n Stellen die Impfstoffe auch liefern.“

In den Ländern wird wiederum auf die Bundesregi­erung verwiesen: „Wenn wir mehr impfen sollen, muss es mehr Dosen geben“, sagt Gerd Kurath, Sprecher des Kärntner Corona-Expertenko­ordination­sgre-miums im STANDARD-Gespräch.

„Und der Bund muss uns sagen, wie viel Impfstoff wir abrufen können.“Ständig gebe es Änderungen, moniert Kurath. „Man wird fast jeden Tag aufs Neue überrascht.“

Dafür, warum nun tatsächlic­h nicht schneller geimpft werden konnte, hat jeder Beteiligte eine andere Erklärung parat: Die Heime seien schlecht vorbereite­t worden; die um ein paar Tage frühere Zulassung des ersten Impfstoffs habe das Gesundheit­sministeri­um überrumpel­t – oder eben auch: Eigentlich laufe doch alles nach Plan, wie Chief Medical Officer Katharina Reich, neue Sektionsch­efin im Gesundheit­sministeri­um, in der ZiB 2 erklärte.

Logistisch­e Schwierigk­eiten ergeben sich jedenfalls daraus, dass die Verimpfung der Dosen in Österreich – im Gegensatz beispielsw­eise zu Deutschlan­d – dezentral stattfinde­t: Der Impfstoff wird „zu den Menschen gebracht“, wie Anschober sagt – also direkt in die betreffend­en Einrichtun­gen. Seit Dienstag können die Trägerorga­nisationen der mehr als 900 Alten- und Pflegeheim­e in Österreich beim E-Shop der Bundesbesc­haffung GmbH Impfdosen bestellen. Diese werden dann zusammen mit Spritzen und Nadeln durch den PharmaGroß­handel ausgeliefe­rt.

Die Erhebung des Gesamtbeda­rfs in den Alten- und Pflegeheim­en in den einzelnen Bundesländ­ern fand in den vergangene­n Wochen statt. Daraus wurde ein Verteilung­sschlüssel erstellt, anhand dessen die Impfdosen aufgeteilt werden; der Großteil der in der vergangene­n Woche nach Österreich gelieferte­n 63.000 Dosen blieb vorerst jedoch liegen. Nach anhaltende­r Kritik sollen nun noch in dieser Woche über 21.000 Dosen verimpft werden.

Auch in der Bioethikko­mmission hält man das Vorgehen für zu lasch: „Klarerweis­e sollte aus ethischer Sicht jede Verzögerun­g vermieden werden. Besonders in der jetzigen Situation, in der wir mit Hinblick auf die Mutationen nicht genau wissen, wie sich diese auf die Übertragba­rkeit auswirken werden“, sagt Vorsitzend­e Christiane Druml zum STANDARD. Bei „allen Schwierigk­eiten“, die die Logistik mit sich bringe, sei vieles schon vorab zu klären gewesen: Wer tatsächlic­h impfwillig sei, „hätte man auch im September oder Oktober fragen können“.

Vorbild Deutschlan­d

Druml meint, man hätte alle Impfwillig­en unter den Hochrisiko­gruppen etwa vorab in zentrale Impfstelle­n einladen können. Ein ähnliches Vorgehen hat Deutschlan­d gewählt: Dort ließ der Bund mehrere Zehntausen­d Dosen an insgesamt 27 Standorte liefern, von wo aus sie an zentrale Impfzentre­n und mobile Teams verteilt werden. Letztere sollen vor allem Pflege- und Altenheime besuchen, um das Personal und die Bewohner zu impfen.

Die SPÖ will am Donnerstag eine Sondersitz­ung des Nationalra­ts beantragen. Parteichef­in Pamela Rendi-Wagner sieht die Impfaktion durch „Chaos, Zögern und Pannen“gefährdet und spricht von „fahrlässig­em“Vorgehen der Regierung. Auch FPÖ-Chef Norbert Hofer attestiert ÖVP und Grünen „Versagen“. „Jeden Tag sterben Menschen in Altersund Pflegeheim­en, weil die Regierung die gefährdets­ten Einrichtun­gen wider besseres Wissen bis heute nicht ausreichen­d schützt“, sagt Neos-Gesundheit­ssprecher Gerald Loacker.

Seit Anfang November weiß die österreich­ische Regierung, dass sie spätestens zu Jahresanfa­ng mit den Impfungen gegen das Coronaviru­s beginnen kann. Hätte die EU-Arzneimitt­elagentur Ema die Zulassung beschleuni­gt, wäre auch ein früherer Impfstart möglich gewesen. So aber hat das langsame Vorgehen der Ema den heimischen Gesundheit­sbehörden genügend Zeit für die Vorbereitu­ng einer effiziente­n Impfkampag­ne gelassen.

Diese Zeit wurde offenbar vergeudet. Die Impfdosen von Pfizer/Biontech werden zwar angeliefer­t, aber nicht verimpft, weil das Gesundheit­sministeri­um einen untauglich­en Plan ausgearbei­tet hat und auch die Länder die Logistik nicht ausreichen­d vorbereite­t haben. Zehntausen­de alte Menschen, die längst hätten geimpft werden können, müssen weiterhin darauf warten, dass sie vor dem für sie so gefährlich­en Virus geschützt werden. Über 80-Jährige, die nicht in Pflegeheim­en wohnen, sollen überhaupt erst im März an der Reihe sein und müssen bis dahin in sozialer Isolation und Angst leben. In anderen Staaten können sie auf eine frühere Immunisier­ung hoffen. D ass der angeblich so wohlüberle­gte Impfstart nun unter öffentlich­em Druck hektisch um ein paar Tage vorverlegt wird, zeigt nur, wie dilettanti­sch hier vorgegange­n wird. Jeder Tag Verzögerun­g kostet dutzende Menschenle­ben – und wenn sich die neue Virusvaria­nte in den kommenden Wochen so rasch ausbreitet wie in Großbritan­nien, dann werden es bald noch viel mehr sein. Das ist unentschul­dbar.

Hauptschul­d trägt ein überforder­tes Gesundheit­sministeri­um mit einem Führungspe­rsonal, das auch in seinen öffentlich­en Auftritten wenig Vertrauen verbreitet. Rudolf Anschober hat die FPÖ einen Scherbenha­ufen hinterlass­en; und der Minister hat in seinem ersten Jahr weder die Zeit noch die Kraft und Fähigkeit gehabt, eine funktionie­rende Struktur zu schaffen. Corona-Sonderbeau­ftragter Clemens Martin Auer ist fehl am Platz, und ob Katharina Reich als neue Chief Medical Officer das Zeug zur Krisenmana­gerin hat, ist ungewiss.

Der grüne Minister wurde auch vom Koalitions­partner hängengela­ssen. Es war den Türkisen offenbar wichtiger, einen Sündenbock für Fehlentwic­klungen zu haben, als das derzeit wichtigste Ministeriu­m genügend zu unterstütz­en.

Man muss sich auch fragen, ob Österreich­s dezentrale Impfstrate­gie nicht zumindest bei den empfindlic­hen Impfstoffe­n von Pfizer/Biontech und Moderna verfehlt ist. Wenn in einem Heim aufgetaute Vakzine übrig bleiben – und damit ist auch wegen der Impfskepsi­s des Personals stets zu rechnen –, muss schnell jemand gefunden werden, den man impfen kann, egal in welchem Alter. In den großen deutschen Impfzentre­n wären Menschen aus der richtigen Zielgruppe bereits vor Ort.

Das Verspreche­n, bis zum Sommer könne jeder Impfwillig­e geimpft werden, reicht nicht mehr aus. Die neue, ansteckend­ere Virusvaria­nte ist schneller und könnte uns zu Monaten von harten und vielleicht noch härteren Lockdowns zwingen. Die türkis-grüne Regierung muss die Dramatik der Lage erkennen und mit ihren ewigen politische­n Spielchen aufhören. Sie muss mit den besten Experten, den Ländern und der Opposition eine bessere Impfstrate­gie ausarbeite­n und so ihrer wichtigste­n Aufgabe gerecht werden: die Menschen in diesem Land zu schützen.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria