Wachsende Kritik an Regierung wegen langsamen Impfstarts
Kurz kündigt vorgezogene Impfungen an SPÖ fordert Sondersitzung im Parlament
– Der schleppend anlaufende Impfstart in Österreich setzt die Regierung zunehmend unter Druck. Am Dreikönigstag gab Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) bekannt, dass nun doch früher mehr Impfungen verabreicht werden sollen als ursprünglich geplant. „Wir ziehen die Impfungen vor und warten nicht auf den 12. Jänner“, erklärte er. „Beim Impfen geht es um Schnelligkeit und um Menschenleben. Daher gibt es keinen Grund, dass Impfdosen über Wochen zwischengelagert werden.“
Die Kritik an der Vorgehensweise der türkis-grünen Regierung hält dennoch an. Die SPÖ will am Donnerstag eine Sondersitzung des Nationalrats beantragen. Für SPÖ-Parteivorsitzende Pamela Rendi-Wagner ist das Vorgehen der Regierung „fahrlässig“. Die Corona-Impfaktion sei durch „Chaos, Zögern und Pannen“gefährdet. Die FPÖ spricht von einem „Versagen“von ÖVP und Grünen. Die Neos kritisieren, dass Menschen in Alten- und Pflegeheimen nicht ausreichend geschützt und dadurch Menschenleben gefährdet würden.
Im Gesundheitsministerium wird das Vorgehen verteidigt: „Es ist alles gut vorbereitet, wir liefern aus und liegen im Plan“, heißt es aus dem Ressort von Rudolf Anschober (Grüne). Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) appellierte an die Einrichtungen in den Bundesländern, Impfstoffe anzufordern, damit sie geliefert werden könnten.
In den Ländern wird hingegen der Bund in die Pflicht genommen: „Wenn wir mehr impfen sollen, muss es mehr Dosen geben“, sagt Gerd Kurath, Sprecher des Kärntner Corona-Expertenkoordinationsgre-miums im STANDARD-Gespräch. „Und der Bund muss uns sagen, wie viel Impfstoff wir abrufen können.“
Neuer Impfstoff zugelassen
Zusätzlich an Tempo aufnehmen soll das Impfvorhaben durch die Zulassung des vom US-Pharmakonzern Moderna entwickelten Impfstoffes. Diese hatte die EU-Kommission am Mittwoch erteilt. „Unsere Prognosen sind ein weiteres Mal erfüllt“, sagt Anschober. Österreich erwartet von Moderna für das erste Quartal 200.000 Impfdosen, 690.000 weitere sollen bis zum Ende des ersten Halbjahres folgen. Der Moderna-Impfstoff soll gleich Effektiv wie jener von Biontech/Pfizer sein, jedoch einfacher zu lagern. Die Marktzulassung des Impfstoffs von Astra Zeneca erwartet das Gesundheitsministerium im Februar. (red)
Der öffentliche Unmut wächst, die Opposition tobt, viele Fragen bleiben unbeantwortet – der zuerst noch groß inszenierte Impfstart in Österreich setzt die Bundesregierung zunehmend unter Druck. „Seit der ersten, öffentlichkeitswirksamen Showimpfung am 27. Dezember ist viel zu wenig geimpft worden“, kritisiert Harald Mayer, Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer. „Die Bevölkerung braucht klare, konkrete Pläne statt Showpolitik und Chaos.“
Bisher sind in Österreich nach Angaben des Gesundheitsministeriums 6770 Menschen geimpft worden, seit Silvester sogar bloß 700 – wobei die Zahlen nicht tagesaktuell eingemeldet werden. Ganz klar ist es also nicht. In Deutschland haben – zum Vergleich – allein in Alten- und Pflegeheimen bereits 190.000 Menschen eine Impfung erhalten.
Am Dreikönigstag rückte der Kanzler aus, um zu erklären, dass der – laut altem Plan für 12. Jänner geplante – breitere Impfbeginn nun vorverlegt werde: „Beim Impfen geht es um Schnelligkeit und um Menschenleben. Daher gibt es keinen Grund, dass Impfdosen über Wochen zwischengelagert werden“, sagt Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP).
Niemand will schuld sein
Im Gesundheitsministerium wird beteuert, dass die logistische Herausforderung groß sei und der Impfstoff in der Handhabung kompliziert. Kritik, dass zu wenig Vorbereitungen getroffen worden seien, lässt man dort aber nicht gelten: „Es ist alles gut vorbereitet, wir liefern aus und liegen im Plan, fürs Impfen sind die Länder zuständig“, heißt es aus dem Ressort von Minister Rudolf Anschober (Grüne). Auch Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) appellierte am Mittwoch an die Einrichtungen in allen Bundesländern, die Impfstoffe abzurufen: „Nur wenn der Impfstoff angefordert wird, können die zuständigen Stellen die Impfstoffe auch liefern.“
In den Ländern wird wiederum auf die Bundesregierung verwiesen: „Wenn wir mehr impfen sollen, muss es mehr Dosen geben“, sagt Gerd Kurath, Sprecher des Kärntner Corona-Expertenkoordinationsgre-miums im STANDARD-Gespräch.
„Und der Bund muss uns sagen, wie viel Impfstoff wir abrufen können.“Ständig gebe es Änderungen, moniert Kurath. „Man wird fast jeden Tag aufs Neue überrascht.“
Dafür, warum nun tatsächlich nicht schneller geimpft werden konnte, hat jeder Beteiligte eine andere Erklärung parat: Die Heime seien schlecht vorbereitet worden; die um ein paar Tage frühere Zulassung des ersten Impfstoffs habe das Gesundheitsministerium überrumpelt – oder eben auch: Eigentlich laufe doch alles nach Plan, wie Chief Medical Officer Katharina Reich, neue Sektionschefin im Gesundheitsministerium, in der ZiB 2 erklärte.
Logistische Schwierigkeiten ergeben sich jedenfalls daraus, dass die Verimpfung der Dosen in Österreich – im Gegensatz beispielsweise zu Deutschland – dezentral stattfindet: Der Impfstoff wird „zu den Menschen gebracht“, wie Anschober sagt – also direkt in die betreffenden Einrichtungen. Seit Dienstag können die Trägerorganisationen der mehr als 900 Alten- und Pflegeheime in Österreich beim E-Shop der Bundesbeschaffung GmbH Impfdosen bestellen. Diese werden dann zusammen mit Spritzen und Nadeln durch den PharmaGroßhandel ausgeliefert.
Die Erhebung des Gesamtbedarfs in den Alten- und Pflegeheimen in den einzelnen Bundesländern fand in den vergangenen Wochen statt. Daraus wurde ein Verteilungsschlüssel erstellt, anhand dessen die Impfdosen aufgeteilt werden; der Großteil der in der vergangenen Woche nach Österreich gelieferten 63.000 Dosen blieb vorerst jedoch liegen. Nach anhaltender Kritik sollen nun noch in dieser Woche über 21.000 Dosen verimpft werden.
Auch in der Bioethikkommission hält man das Vorgehen für zu lasch: „Klarerweise sollte aus ethischer Sicht jede Verzögerung vermieden werden. Besonders in der jetzigen Situation, in der wir mit Hinblick auf die Mutationen nicht genau wissen, wie sich diese auf die Übertragbarkeit auswirken werden“, sagt Vorsitzende Christiane Druml zum STANDARD. Bei „allen Schwierigkeiten“, die die Logistik mit sich bringe, sei vieles schon vorab zu klären gewesen: Wer tatsächlich impfwillig sei, „hätte man auch im September oder Oktober fragen können“.
Vorbild Deutschland
Druml meint, man hätte alle Impfwilligen unter den Hochrisikogruppen etwa vorab in zentrale Impfstellen einladen können. Ein ähnliches Vorgehen hat Deutschland gewählt: Dort ließ der Bund mehrere Zehntausend Dosen an insgesamt 27 Standorte liefern, von wo aus sie an zentrale Impfzentren und mobile Teams verteilt werden. Letztere sollen vor allem Pflege- und Altenheime besuchen, um das Personal und die Bewohner zu impfen.
Die SPÖ will am Donnerstag eine Sondersitzung des Nationalrats beantragen. Parteichefin Pamela Rendi-Wagner sieht die Impfaktion durch „Chaos, Zögern und Pannen“gefährdet und spricht von „fahrlässigem“Vorgehen der Regierung. Auch FPÖ-Chef Norbert Hofer attestiert ÖVP und Grünen „Versagen“. „Jeden Tag sterben Menschen in Altersund Pflegeheimen, weil die Regierung die gefährdetsten Einrichtungen wider besseres Wissen bis heute nicht ausreichend schützt“, sagt Neos-Gesundheitssprecher Gerald Loacker.
Seit Anfang November weiß die österreichische Regierung, dass sie spätestens zu Jahresanfang mit den Impfungen gegen das Coronavirus beginnen kann. Hätte die EU-Arzneimittelagentur Ema die Zulassung beschleunigt, wäre auch ein früherer Impfstart möglich gewesen. So aber hat das langsame Vorgehen der Ema den heimischen Gesundheitsbehörden genügend Zeit für die Vorbereitung einer effizienten Impfkampagne gelassen.
Diese Zeit wurde offenbar vergeudet. Die Impfdosen von Pfizer/Biontech werden zwar angeliefert, aber nicht verimpft, weil das Gesundheitsministerium einen untauglichen Plan ausgearbeitet hat und auch die Länder die Logistik nicht ausreichend vorbereitet haben. Zehntausende alte Menschen, die längst hätten geimpft werden können, müssen weiterhin darauf warten, dass sie vor dem für sie so gefährlichen Virus geschützt werden. Über 80-Jährige, die nicht in Pflegeheimen wohnen, sollen überhaupt erst im März an der Reihe sein und müssen bis dahin in sozialer Isolation und Angst leben. In anderen Staaten können sie auf eine frühere Immunisierung hoffen. D ass der angeblich so wohlüberlegte Impfstart nun unter öffentlichem Druck hektisch um ein paar Tage vorverlegt wird, zeigt nur, wie dilettantisch hier vorgegangen wird. Jeder Tag Verzögerung kostet dutzende Menschenleben – und wenn sich die neue Virusvariante in den kommenden Wochen so rasch ausbreitet wie in Großbritannien, dann werden es bald noch viel mehr sein. Das ist unentschuldbar.
Hauptschuld trägt ein überfordertes Gesundheitsministerium mit einem Führungspersonal, das auch in seinen öffentlichen Auftritten wenig Vertrauen verbreitet. Rudolf Anschober hat die FPÖ einen Scherbenhaufen hinterlassen; und der Minister hat in seinem ersten Jahr weder die Zeit noch die Kraft und Fähigkeit gehabt, eine funktionierende Struktur zu schaffen. Corona-Sonderbeauftragter Clemens Martin Auer ist fehl am Platz, und ob Katharina Reich als neue Chief Medical Officer das Zeug zur Krisenmanagerin hat, ist ungewiss.
Der grüne Minister wurde auch vom Koalitionspartner hängengelassen. Es war den Türkisen offenbar wichtiger, einen Sündenbock für Fehlentwicklungen zu haben, als das derzeit wichtigste Ministerium genügend zu unterstützen.
Man muss sich auch fragen, ob Österreichs dezentrale Impfstrategie nicht zumindest bei den empfindlichen Impfstoffen von Pfizer/Biontech und Moderna verfehlt ist. Wenn in einem Heim aufgetaute Vakzine übrig bleiben – und damit ist auch wegen der Impfskepsis des Personals stets zu rechnen –, muss schnell jemand gefunden werden, den man impfen kann, egal in welchem Alter. In den großen deutschen Impfzentren wären Menschen aus der richtigen Zielgruppe bereits vor Ort.
Das Versprechen, bis zum Sommer könne jeder Impfwillige geimpft werden, reicht nicht mehr aus. Die neue, ansteckendere Virusvariante ist schneller und könnte uns zu Monaten von harten und vielleicht noch härteren Lockdowns zwingen. Die türkis-grüne Regierung muss die Dramatik der Lage erkennen und mit ihren ewigen politischen Spielchen aufhören. Sie muss mit den besten Experten, den Ländern und der Opposition eine bessere Impfstrategie ausarbeiten und so ihrer wichtigsten Aufgabe gerecht werden: die Menschen in diesem Land zu schützen.