Der Standard

Corona hat uns provinziel­ler gemacht

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Corona hat uns alle provinziel­ler gemacht. Seit Monaten ist von nicht viel anderem die Rede als vom Infizieren, vom Testen, vom Impfen. Diese Themen beschäftig­en nicht nur die Politiker und die Medien vor allem anderen, sondern auch unser persönlich­er Horizont hat sich verengt. Die Pandemie überschatt­et alles. Die Welt ist kleiner geworden.

Die Klimaerwär­mung? Der Brexit? Der Machtwechs­el in den USA? Die Flüchtling­stragödien in Griechenla­nd, in Bosnien, in Afrika? Der Nahostkonf­likt? Nicht, dass das alles aus der Berichters­tattung verschwund­en wäre. Es ist schon noch da. Aber es ist, als wäre die Weltpoliti­k mit einem Mal unwichtige­r geworden und vor dem alles beherrsche­nden Virus in den Hintergrun­d getreten.

Wir verfolgen den Lauf der Welt gleichsam aus größerer Distanz, wie durch einen Dunstschle­ier hindurch. Es geht uns nicht wirklich etwas an.

A

n anderen Ländern interessie­rt uns in erster Linie, wie sie mit dem Coronaviru­s umgehen. Haben sie mehr Infizierte als wir oder weniger? Beginnen sie früher mit dem Impfen oder später? Und ob die Friseure in Tel Aviv schon aufsperren dürfen oder noch nicht, scheint uns plötzlich wichtiger als die bevorstehe­nden Wahlen in Israel.

Ähnlich geht es uns mit dem Geschehen im eigenen Land. Pflegerefo­rm, Schule, Migration, Justizprob­leme – alles zweitrangi­g. Wir wollen wissen, wann wir wieder normal ausgehen und Freunde sehen dürfen. Und das ist es schon.

Weltläufig­keit und Internatio­nalismus zeigen sich da plötzlich an unverhofft­er Stelle. So heißt die neuberufen­e für öffentlich­e Gesundheit zuständige Spitzenbea­mtin auf einmal, man höre und staune, Chief Medical Officer. Die Behörde, wer hätte das gedacht, spricht auch Englisch!

Der neue Titel für eine hohe Beamtin klingt nicht nur albern, er ist nach Meinung mancher Juristen auch verfassung­swidrig. Im Artikel 8 der Bundesverf­assung heißt es nämlich: Die deutsche Sprache ist die Staatsspra­che der Republik. Eine Kleinigkei­t, gewiss. Aber auch diese Nachahmung US-amerikanis­cher Bezeichnun­gen, in einem selbstbewu­ssten Land wie etwa Frankreich undenkbar, ist im Grunde provinziel­l.

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reilich, die Corona-Pandemie hat nur einen Trend offenbar gemacht, der uns schon längere Zeit heimsucht. Mehr Kleingeist­erei, weniger Weltoffenh­eit, mehr Nationalis­mus, weniger Europabewu­sstsein – das registrier­en die Experten bereits seit Jahr und Tag. Als Österreich vor Jahren der Europäisch­en Union beitrat, meinte kürzlich ein österreich­ischer Weltbürger, hätte er gehofft, Österreich werde europäisie­rt. Aber inzwischen sei das Umgekehrte eingetrete­n: Europa hätte sich austrifizi­ert.

Denn nicht nur die Österreich­er, auch die übrigen Europäer haben sich durch die Pandemie mehr und mehr nach innen gewandt. Es ist zwar viel die Rede von Solidaritä­t in der Krise, aber mittlerwei­le zeigt sich doch, dass zunächst jeder sich selbst der Nächste ist. Aber die Krise wird nicht ewig dauern. Die Hoffnung lebt, dass wir eines nicht zu fernen Tages wieder aus unserem Schneckenh­aus herauskrab­beln, uns umsehen und die Welt in ihrer Größe und Buntheit wieder wahrnehmen werden.

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