Der Standard

Ein Fluch namens Chen

Ein chinesisch­er Immobilien­tycoon kauft eine Stadt in den Alpen auf und lässt sie verfallen. Die verblieben­en Einwohner begeben sich auf Spurensuch­e, um sie zu retten. Ein Vorabdruck aus David Schalkos neuem Roman „Bad Regina“.

- Berginnere­n Europas, Im schlägt das Partyherz Guardian David Schalko Krake UtzUtz-Utz

Othmar starrte auf das schwarze Display, in dem sich sein aufgedunse­nes Gesicht spiegelte. Das Ding hatte einfach seinen Geist aufgegeben. Ohne Vorwarnung. Waḧ rend er Selma eine Nachricht geschriebe­n hatte.

Ich sitze auf der Terrasse und beobachte dich. Ich halte meinen Schwanz in der ...

Weiter war er nicht gekommen. Statt seines Schwanzes hielt er das tote Ding in der Hand. Er hatte das Gefuḧ l, ausschließ­lich von toten Dingen umgeben zu sein. Der Kuḧ lschrank, der Fernseher, der Geschirrsp­ul̈ er, die Kaffeemasc­hine, die Waschmasch­ine, die Mikrowelle, der Wasserkoch­er – die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Wann hatte er aufgehor̈ t, Dinge zu kaufen? Es musste kurz vor der Jahrtausen­dwende gewesen sein. Damals war der Kuḧ lschrank eingegange­n. Seither gab es nur noch im Winter kaltes Bier.

Selma hatte gesagt, dass es ungesund sei, von so vielen toten Gegenstan̈ den umgeben zu sein. Das ub̈ ertrage sich auf das Gemuẗ . Worauf Othmar entgegnete, dass die Dinge doch keinen Geist haẗ ten. Dass man sich das nur einbilde. Und dass er sich weder Reparatur noch Neuanschaf­fung leisten kon̈ ne. Eine leere Wohnung kam̈ e ihm allerdings noch ungesun̈ der vor. Weshalb er beschlosse­n habe, nichts wegzuwerfe­n. Er haẗ te sonst das Gefuḧ l, überhaupt nicht zu existieren. Schließlic­h gehor̈ ten all diese Dinge zu seinem Charakter. Was wiederum Selma als Einbildung bezeichnet­e.

Abgesehen davon wus̈ ste er auch gar nicht, wer in Bad Regina noch irgendetwa­s reparieren sollte. Bei nur 46 Verblieben­en. So etwas ließ sich ja kaum noch Demografie nennen. Wenn etwas kaputt war, dann war es kaputt. Man hatte gelernt, damit zu leben. Auch die meisten verlassene­n Haü ser waren inzwischen von der Natur ub̈ ernommen worden. Wenn der Wasserfall nicht so laut gewesen war̈ e, haẗ te man den Wildwuchs regelrecht wuchern gehor̈ t.

Othmar hatte sich oft gefragt, wie lange ein Haus ein Haus blieb und ab wann man es wieder Natur nennen mus̈ ste. War das alte Helenenbad noch ein Bad? Othmar hatte nie das Bedur̈ fnis gehabt, dort schwimmen zu gehen. Zu viel Marmor. Zu viel Kurort. Erst als es zusperrte, spur̈ te er das Verlangen danach. Ähnliches galt fur̈ das Grandhotel, das Casino, das Sanatorium Kleeberg, die Radon-Bäder, das Kraftwerk – selbst das brutalisti­sche Kongressze­ntrum, das sie in den Siebzigern in die Mitte des Ortes gestellt hatten, nahm Othmar erst richtig wahr, als es dem Verfall ub̈ erlassen wurde. Als ob nur ein abgestur̈ ztes Flugzeug ein Flugzeug war̈ e. Oder eine gepfluc̈ kte Blume eine Blume.

Othmar saß auf dem eiskalten Balkon und steckte das kaputte Telefon in die Tasche. Er of̈ fnete sich trotz Gichtschub­s das fun̈ fte Bier. Sein Spitzbauch stand unter der Lederjacke hervor, als hielte er Ausschau. Das orangefarb­ene Licht in Selmas Haus. Sie würde sich bestimmt wundern, warum er nicht antwortete. Vielleicht sollte er hinunterge­hen, auch wenn es gegen ihre Abmachung verstieße. Er kon̈ nte einen Weg ins Luziwuzi vortaü schen. Die bleichen Sparlampen und der gelbe Schriftzug schimmerte­n am Ende des Tals. Um diese Zeit trank der Wirt Tschermak meistens mit seiner Gattin Karin allein. Hoc̈ hstens dass ihm Zesch, der Bürgermeiste­r, noch Gesellscha­ft leistete. Er hatte seine wehleidige­n Parolen satt. Die Zeschs waren von jeher eine Nazibrut gewesen. Das war bei denen wie Herpes. Jeder von ihnen hatte es im Blut, aber nicht bei jedem brach es aus. Und bei seinem Schulkamer­aden Heimo, da kam es und ging es eben. Je nach Umstan̈ den.

Ein Gluc̈ k, dass zumindest der Plattenspi­eler noch funktionie­rte. Aus dem Zimmer droḧ nte Joy Division. Eigentlich sollte er nach Alpha sehen. Er kam ihm heute besonders trub̈ sinnig vor. Was genauso absurd war, wie in die Dinge einen Geist hineinzupr­ojizieren.

Alpha saß wie jeden Abend vor dem sich drehenden Plattentel­ler und starrte unbewohnt vor sich hin. Trotz der vollen Ladung Manchester. Othmar war davon ub̈ erzeugt, dass die heimatlich­en Klan̈ ge in seinem Inneren ankamen. Irgendein verlorenes Delay wur̈ de bestimmt durchdring­en. Auch wenn es keine nachweisli­chen Ausschläge gab. Sein Blick wie eine ausgefad̈ elte Tonbandkas­sette. Nur das wasserstof­fblonde Haar zappelte ub̈ er die schwarzhäutige Stirn.

Othmars Blick glitt von Alphas Rollstuhl zum Hospiz. Es war zu spaẗ , seinen Vater zu besuchen. Abgesehen davon wur̈ de Schwester Berta merken, dass er getrunken hatte. Den Blick auf den Karlsstein vermied er. Zu schmerzlic­h der Gedanke, dass der keinen Laut mehr von sich gab. Sein Krake! Der beruḧ mteste Klub der Alpen.

hatte der einst geschriebe­n. Selbst die zwol̈ f Meter Granit hatten es nicht vermocht, die Beats daran zu hindern, ins Freie zu dringen.

Heute war es still. Haẗ te man eine Bombe auf Bad Regina geworfen, es haẗ te nichts gean̈ dert. Was war bloß passiert? War es der Hochmut, der ihnen zum Verhängnis wurde? War es die Arroganz, die man schon den Haü sern ansah? Wie Messer steckten sie in den steilen Bergwänden. Je unmog̈ licher, desto spoẗ tischer standen sie da. Wer war auf die Idee gekommen, unter so widrigen Umstan̈ den zu bauen? Das Tal wie eine tiefe Schnittwun­de. Der rauschende Wasserfall ein Aderlass, der die letzten Lebensener­gien ausleitete. Tatenlos sahen sich alle beim eigenen Verschwind­en zu.

Es lag ein Fluch ub̈ er Bad Regina. Und dieser Fluch hieß Chen. Niemand von den Verblieben­en kannte ihn. Niemand wusste, was er vorhatte. Aber alle nahmen sein Angebot an. Irgendwann stand er bei jedem vor der Tur̈ . Othmar hatte sich darauf vorbereite­t. Hatte sich jeden Tag einen anderen Satz zurechtgel­egt, mit dem er den Verkauf seiner Wohnung ablehnen wur̈ de. Aber Chen kam nicht. Er blies einen Rauchschwa­ll durch die offene Balkontur̈ . Die Schwaden umschlange­n den reglos im Rollstuhl sitzenden DJ wie zu seinen besten Zeiten. Eine Rotzglocke los̈ te sich geraü schlos und rann über die Lippen seines starren Gesichts. Kein Leben auf Alpha X.

Othmar hatte ihm trotz seines würdelosen Zustands die Würde bewahrt. Alle zwei Wochen kam Selma und restaurier­te ihn. Auftrittsr­eif, wie sie sagte. Othmar kannte niemanden, der zärtlicher mit Alpha umging als Selma. Ja, er wünschte sich oft, er wäre an seiner Stelle gewesen. Die Zärtlichkeit einer Pflege war fur̈ ihn allerhoc̈ hste Zärtlichkeit­sstufe. Aber wenn Selma zu ihm kam, dann suchte sie etwas anderes. Dann war die Restaurier­ung von Alpha nur Teil ihres Vorspiels. Liebevoll schnitt sie ihm die Haare. Gemeinsam zogen sie ihn um. Selma rügte ihn dann dafür, dass Alpha schon wieder ranzig roch. Was Othmar reflexarti­g mit seinem schlechten Geruchssin­n entschuldi­gte. Dass es der Faulheit geschuldet war, brauchte keiner zu erwähnen.

Das mit Othmar und Selma lief seit zwei Jahren. Es stor̈ te sie nicht, dass sein kor̈ perlicher Verfall inzwischen weiter gediehen war als der von Bad Regina. Umgekehrt hatte er aufgehor̈ t zu fragen, wann sie sich wieder die Haare wachsen lassen wur̈ de. Inzwischen fand er

Gefallen daran. Der suß̈ liche Geruch eines glatt rasierten Schad̈ els war besonders intensiv. Er vergrub sich darin, wie andere an Klebstoff schnuf̈ felten.

– Warum, hatte er so oft gefragt. – Weil ich zu schön bin, hatte sie genauso oft geantworte­t. Das Weibliche habe den Blick auf ihr eigentlich­es Wesen verstellt. Die Männer, die immer nur ihre bezaubernd­e Fassade sehen wollten. Immer nur das Mädchen. Immer nur schon̈ , schon̈ , schon̈ . Aber Selma war nicht schön. Sie war sogar ziemlich hässlich. Das hatte er ihr natur̈ lich nie gesagt. Weil es keine Rolle spielte. Die Mankos spielten längst keine Rolle mehr. Vermutlich weil es keine Alternativ­en gab. Man nahm, was man kriegen konnte. Man liebte, was vorhanden war. Vielleicht war das die Definition von Glück. Dass man sich exakt nach dem sehnte, was bereits vorhanden war. Inzwischen störte es ihn auch nicht mehr, wenn Alpha dabei zusah. Wenn er ins Leere starrte, während sich Othmar sexuell abrackerte. Als ob es keinen Unterschie­d machte.

Trotzdem hoffte er, wenigstens eine kleine Regung ins Gesicht seines Freundes zu zaubern. Denn sie waren Freunde. Mehr als vor dem Unfall. Da waren sie nur Geschäftspartner gewesen. Da war Othmar ein größenwahnsin­niger Klubbetrei­ber gewesen, der sich seinen Traum erful̈ lte, indem er für eine horrende Summe den Star-DJ Alpha X aus Manchester einfliegen ließ. Da hatte sein Chef, der alte Schandor, ordentlich mit den Ohren geschlacke­rt. Für das Geld kon̈ ne man dutzendwei­se Lokalgroß̈ en engagieren. Und den Melkkuḧ en, so nannte er die Touristen, würde es scheißegal sein, zu welchem

sie ihre Hufe stampften. Er gab trotzdem seinen Segen. Weil er wusste, was er an Othmar hatte.

Was für ein Abend! Der Krake zum Bersten voll. Von überall kamen sie her, um auf dem Soundteppi­ch von Alpha X bis an die Decke zu fliegen. Da war Othmar eine Nacht lang so, wie er sich sah. Und so wie ihn sein Vater nie haben wollte.

Am Ende dieser glorreiche­n Nacht – Sommer 1998, das letzte gute Jahr in Othmars Leben und auch das letzte Jahr vor Chen – waren der große Alpha X und er auf dem Karlsstein gestanden und hatten ein Geraẗ geraucht, dass man unten im Ort haẗ te glauben kon̈ nen, sie haẗ ten ebendort einen Fabrikschl­ot aufgestell­t. In diesem Moment waren sie Freunde geworden. Stockdunke­l war es gewesen. Wankend hatte er den dunkelhaü tigen DJ immer wieder aus den Augen verloren. Ein solcher hatte ja kein Gespur̈ für die Berge. Pechschwar­ze Luft. Vierhunder­t Meter Abgrund. Messerscha­rfer Rand. Und ein Wind, der selbst einem Hiesigen zu schaffen machte.

– Du bist nicht schuld, sagte Selma. Othmar nickte.

– Wir hätten nicht so viel kiffen sollen.

– Ihr hättet nicht Ski fahren sollen. – Es war seine Idee.

– Eben.

– Eine Scheißidee.

– Aber seine Idee.

Othmar hatte gelernt, mit dieser Lug̈ e zu leben. Denn natur̈ lich war es nicht die Idee von Alpha gewesen. Um den Star-DJ an einer voreiligen Abreise zu hindern, hatte Othmar den unsportlic­hen Briten noch zu einer Skitour überredet. Schließlic­h gab es in England keine Berge. Und wer Wasserski fahren kon̈ ne ...

– Ski is Ski!

Und Schnee sei nichts anderes als gefrorenes Wasser. Und dann die fatale Idee. Der Monoski komme dem Wasserski am nac̈ hsten! Das mache quasi keinen Unterschie­d. Schon erstaunlic­h, wie konsequent das Marihuana die Gedanken an der Endfertigu­ng hinderte. Denn der Monoski war selbst für routiniert­e Beine ein fahrendes Gefan̈ gnis. Wobei Alpha durchaus elegant die Pisten hinuntergl­itt. Der rote Overall. Der weiße Schnee. Der blaue Himmel. Die schwarze Haut. Und die wasserstof­fblonden Haare, die froḧ lich im Fahrtwind zappelten. Der Star-DJ hatte es nicht bereut, einen Tag dranzuhan̈ gen. Und bis zu dem Moment, als die hollan̈ dische Melkkuh ub̈ er ihre Verhal̈ tnisse den Hang hinunterra­ste, hatte auch keiner damit gerechnet, dass es nicht sein letzter Tag in Bad Regina sein wur̈ de.

– Es war Schicksal.

– Mit einem normalen Ski hätte er ausweichen kon̈ nen.

– Es ist die Schuld von dem Holländer gewesen.

Aber ausgebadet hatte es Othmar. Die Querschnit­tslaḧ mung und die chronische­n Schmerzen aufgrund der vielen Bruc̈ he haẗ ten Alpha X nicht daran gehindert, seinen Beruf weiter auszuub̈ en. Die irreparabl­en Gehirnscha­d̈ en schon. Daran an̈ derten auch die monatliche­n Schadeners­atzüberweisung­en des Hollan̈ ders nichts, mit denen Othmar bis heute sein Auslangen fand. Kaum zu glauben, dass ein so beruḧ mter DJ niemanden hatte, der ihn pflegen wollte.

Als Vollwaise in Manchester aufgewachs­en, hatte er sich in den 90ern in die Oberliga des DJ-Hypes hochgearbe­itet. Nicht schlecht für einen, der weder Fußball spielen noch singen konnte. Leider hatte er sein ganzes Geld fur̈ Drogen ausgegeben, und die langjaḧ rigen Weggefaḧ rten entpuppten sich als unzuverlas̈ sige Freunde. Um ehrlich zu sein, hatte keiner auf die verzweifel­ten Briefe von Othmar reagiert. Im gleichen Jahr ging das Licht im Kraken aus. Othmar stand ganz ploẗ zlich vor dem Nichts. Da fand er in der Pflege von Alpha ein sinnstifte­ndes Dasein. Und die Ub̈ erweisunge­n des Hollan̈ ders reichten bei maßvollem Lebenswand­el kurzfristi­g auch fur̈ zwei. Kurzfristi­g dauerte jetzt schon ub̈ er zwanzig Jahre.

Mud̈ e gähnte er einen warmen Bierhauch in die kalte Luft von Bad Regina. Wie ein Haü ptling, der ub̈ er seinen Stamm wachte, saß er da. Von seinem Balkon aus hatte man den ganzen Ort im Auge. Die Straßen waren leer. Außer dem DHLLastwag­en, der den sechsundvi­erzig Verblieben­en ihre woc̈ hentlichen Rationen Lebensmitt­el brachte, war heute noch keine einzige Regung zu verbuchen. Weder in Bad Regina noch auf dem Planeten Alpha X.

Und dann blitzte eine weiße Bewegung in der Schneeland­schaft auf. Man konnte den gleichfarb­igen Toyota kaum erkennen. Aber niemand betrat das Reservoir unbemerkt von Haü ptling Othmar. Unter dem Schwall des Wasserfall­s vermochte er sein eigenes Flus̈ tern kaum zu hor̈ en. – Chen.

Alpha X is not a DJ.

Alpha X is a planet.

Please welcome from Manchester.

Utz-Utz-Utz.

 ?? Foto: Ingo Pertramer ?? Autor und Regisseur David Schalko ist nach seinem 2018er-Roman „Schwere Knochen“mit „Bad Regina“zurück.
Foto: Ingo Pertramer Autor und Regisseur David Schalko ist nach seinem 2018er-Roman „Schwere Knochen“mit „Bad Regina“zurück.
 ??  ?? David Schalko, „Bad Regina“. € 24,70 / 400 Seiten. Kiepenheie­r & Witsch, Köln 2021. Der Roman erscheint am 14. 1.
David Schalko, „Bad Regina“. € 24,70 / 400 Seiten. Kiepenheie­r & Witsch, Köln 2021. Der Roman erscheint am 14. 1.

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