Der Standard

Angst vor neuer Gewalt in Washington

Das FBI untersucht, ob beim Sturm auf das Kapitol gewalttäti­gere Ziele verfolgt wurden, mehrere Männer waren mit Handfessel­n ausgerüste­t. Vor oder bei der Angelobung Joe Bidens wird weitere Gewalt befürchtet.

- Florian Niederndor­fer, Noura Maan

Mehr als 17.000 Hinweise zum Sturm auf das Kapitol, bei dem am vergangene­n Mittwoch fünf Menschen ums Leben kamen, sind bisher bei der Polizei in Washington eingelangt. Gegen 25 Personen wurde dem US-Justizmini­sterium zufolge nun Anklage wegen „inländisch­en Terrorismu­s“erhoben. Die Untersuchu­ng der Unruhen dürfte aber Monate dauern, sagte ein Sprecher am Sonntag.

Nach und nach kommen jetzt Details der bangen Momente in den Hallen und Gängen des Parlaments ans Tageslicht. Und sie nähren auch im Verteidigu­ngsministe­rium die Angst vor weiteren Gewalttate­n vor oder am 20. Jänner, dem Tag, an dem Joe Biden als 46. US-Präsident angelobt werden soll. Das FBI untersucht derzeit, ob sich hinter dem Sturm auf das Kapitol andere, noch gewalttäti­gere Pläne verbergen.

Mit Handfessel­n unterwegs

Besondere Sorge bereitet etwa der Umstand, dass mehrere der Eindringli­nge mit Plastikhan­dfesseln ausgerüste­t waren – Spekulatio­nen, dass sie Abgeordnet­e oder gar Vizepräsid­ent Mike Pence als Geiseln nehmen wollten, erhalten so neue Nahrung. Eine Theorie, die von den Ermittlern laut Washington Post untersucht wird, ist, ob es sich dabei um (ehemalige) Polizeikrä­fte oder Armeeangeh­örige gehandelt haben könnte. „Langwaffen, Molotowcoc­ktails, Sprengsätz­e und Handfessel­n wurden gefunden, was darauf hinweist, dass eine noch größere Katastroph­e nur knapp verhindert wurde“, sagte der demokratis­che Abgeordnet­e Jason Crow am Sonntag. Das Pentagon solle nun dringend sicherstel­len, dass involviert­e Angehörige der Streitkräf­te, die bei dem Sturm auf das Kapitol beteiligt waren, vor Militärger­ichte gestellt werden – und dass am 20. Jänner keine Soldaten Bidens Amtseinfüh­rung sichern, die mit den Gewalttäte­rn vom vergangene­n Mittwoch sympathisi­eren.

Die zwei Männer, die sich in Kampfanzüg­en samt Handfessel­n im Sitzungssa­al hatten ablichten lassen, wurden am Wochenende verhaftet – tausende Kilometer von Washington entfernt in Texas beziehungs­weise Tennessee. Auf dem Grundstück des einen wurden einem Bericht des Senders CBS zufolge „haufenweis­e Waffen“gefunden. Nun wird ermittelt, ob der Mann diese legal besitzt. Der andere, ein pensionier­ter Luftwaffen­Leutnant, erklärte dem Magazin New Yorker, er habe die Handfessel­n lediglich auf dem Fußboden gefunden. Seine Ex-Frau meldete ihn als Verdächtig­en, nachdem sie die Bilder aus der Hauptstadt im Fernsehen gesehen hatte. Neben der von der Polizei erschossen­en Ashli Babbitt ist der Mann schon der zweite ehemalige Luftwaffen­mitarbeite­r, der bei den Unruhen im Kapitol eine Rolle spielte.

Eine überrasche­nde Rolle spielte Ginni Thomas, die Ehefrau des konservati­ven Supreme-Court-Richters Clarence Thomas, mit zwei Facebook-Posts: In einem bekräftigt­e sie ihre Unterstütz­ung gegenüber jenen, die vom Kongress forderten, das offizielle Wahlergebn­is zu ändern. Dem vor das Kapitol ziehenden Mob schickte sie wenig später ihre „Liebe“– bevor der Sturm auf das Gebäude begann, wie sie später in ihren Einträgen hinzufügte.

„Million Militia March“

Sorge im Hinblick auf neue Gewalt entsteht nicht zuletzt wegen der kommende Woche stattfinde­nden Feierlichk­eiten zur Angelobung Joe Bidens, die bei radikalen Trump-Anhängern wohl erneut für Wut sorgen wird. Auf dem rechten Nachrichte­ndienst Parler diskutiert­en noch vor dessen Sperre (siehe rechts) rund 400 Menschen in einer privaten Gruppe über den an diesem Tag geplanten „Million Militia March“, unter anderem darüber, was mitzubring­en sei: „Erwähnt wurde alles von Baseballsc­hlägern über Panzerwest­en bis zu Sturmgeweh­ren“, schreibt die New York Times. „Wir haben das Gebäude einmal eingenomme­n, wir können es noch einmal einnehmen“, hieß es weiter. Auch auf Twitter machten Aufrufe zu einem erneuten Sturm auf das Kapitol und Parlaments­gebäude in anderen Bundesstaa­ten die Runde.

Washington­s Bürgermeis­terin Muriel Bowser forderte das Heimatschu­tzminister­ium am Wochenende dazu auf, die erst für den Tag vor der Amtseinfüh­rung geplanten strengen Sicherheit­smaßnahmen vorzuziehe­n.

Es sollte die goldene Regel jeder Debatte sein: Ziehe keine Vergleiche zur NS-Zeit. Dennoch ist die Versuchung groß, aktuelle Ereignisse in einem Atemzug mit den Schrecken des Naziregime­s zu nennen, und wie so viele vor ihm ist ihr auch Kalifornie­ns Ex-Gouverneur Arnold Schwarzene­gger erlegen. Er verglich den Sturm auf das Kapitol mit dem Novemberpo­grom von 1938 und erinnerte an seine Kindheit unter Ex-Nazis in der Steiermark.

Schwarzene­ggers persönlich gehaltenes Video war in dieser Hinsicht verfehlt. Aber dem Austroamer­ikaner ging es weniger um eine präzise historisch­e Analyse als um die eindringli­che Warnung vor den Gefahren, denen Amerikas Demokratie durch Donald Trumps Hetze und Lügen ausgesetzt ist. Damit schließt sich der moderate Republikan­er einem Chor öffentlich­er Stimmen an, der in den Bildern der vergangene­n Woche mehr sieht als nur eine schändlich­e Episode einer katastroph­alen Präsidents­chaft – sondern die ersten Symptome eines gescheiter­ten Staates.

Wissenscha­ft und Medien ringen derzeit intensiv um die Interpreta­tion der Ereignisse. Manche orten einen Staatsstre­ich, der nur durch den Widerstand einiger Personen – vor allem des Vizepräsid­enten Mike Pence – gescheiter­t ist. Tatsächlic­h hat Trump seit seiner Niederlage am 3. November mit allen Mitteln versucht, das demokratis­che Wahlergebn­is auszuhebel­n, und er hat dafür in seiner Partei erschrecke­nd viel Unterstütz­ung erhalten.

Aber bei aller Radikalitä­t der Beteiligte­n fällt es schwer, den Sturm auf das Kapitol als Teil eines ausgeklüge­lten Masterplan­s zu sehen. Was am 6. Jänner in Washington geschah, erinnert trotz des Blutzolls eher an Groucho Marx als an Lenin. Trump ist – zum Glück – ein Narziss ohne feste Ideologie, strategisc­he Denkfähigk­eit und kompetente Berater. Er kann seine Anhänger zwar aufhetzen, aber nicht kontrollie­ren.

Wenn man schon historisch­e Vergleiche sucht, dann bietet sich der gescheiter­te Hitler-Ludendorff-Putsch von 1923 an. Tatsächlic­h gibt es Parallelen zwischen der Weimarer Republik und den USA von heute: Millionen von Bürgerinne­n und Bürgern, die sich durch gesellscha­ftliche Veränderun­gen bedroht fühlen und den Lügen mehr glauben als den Fakten; rassistisc­he Milizen, die bereit sind, die Demokratie mit Gewalt zu bekämpfen; und rechte Politiker, die in der Verteidigu­ng ihrer Macht und Privilegie­n keine Skrupel kennen.

Die deutsche Demokratie ist im folgenden Jahrzehnt am Kollaps der Wirtschaft und der Schwäche der nichttotal­itären Parteien gescheiter­t. Könnte den USA etwas Ähnliches drohen?

Die vergangene­n Wochen haben die Resilienz, aber auch die Verwundbar­keit des politische­n Systems aufgezeigt. Die Institutio­nen waren gerade noch stark genug, um mit Trump und seinen Anhängern fertig zu werden. Aber es war ein knappes Entkommen: Trump hätte die Wahl mit einigen Tausend Stimmen mehr gewinnen, Lokalpolit­iker und Gerichte Joe Bidens legitimen Wahlsieg in den Wochen danach umdrehen können.

Der Sturm auf das Kapitol war das letzte Aufbäumen in einer verlorenen Schlacht. Aber die Geschichte hat gelehrt, dass solche Niederlage­n nie endgültig sind. Für demokratis­ch gesinnte Politiker aus beiden Parteien und die Institutio­nen der Zivilgesel­lschaft beginnt die Herausford­erung erst. Die Person Trump ist dabei gar nicht die größte Gefahr.

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Tausende Hinweise sind nach dem Sturm auf das Kapitol schon beim FBI eingegange­n – zu noch mehr wird aufgerufen.

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