Der Standard

Frei produziere­nden Kollektive­n ist eine auf zwölf Bände angelegte Buchreihe im Alexander-Verlag gewidmet.

Und keine falsche Ehrfurcht vor der Postdramat­ik. Eine Buchreihe will Barrieren zur Theaterkun­st abbauen und heutiges Theater niederschw­ellig vermitteln – in Porträts stilprägen­der Gruppen.

- Margarete Affenzelle­r

Sie trinken Champagner aus frisch eingeschwi­tzten Lackschuhe­n. Sie zwingen die Besucher in wuschelige Ganzkörper­affenkostü­me. Und sie treffen sich mit dem Publikum nachts im Hotel, um der Einsamkeit zu entfliehen. Hier ist nicht von urargen Popbands die Rede, sondern vom zeitgenöss­ischen Theater. Schade, denkt da wohl mancher. Denn Theater, das ist ja leider diese auf nicht enden wollenden Dialogen fußende, bildungsbe­flissene Kunstgattu­ng.

Das diese Gattung repräsenti­erende, institutio­nalisierte Theater mit Abonnenten­stamm ist aber nur die halbe Miete. Seit Jahrzehnte­n hat das Theater einen starken popkulture­llen Strang entwickelt, hat sich performati­ves Theater durchschla­gend behauptet. Zu verdanken ist die stete Neulandgew­innung seit den 1990er-Jahren erheblich den frei produziere­nden Künstlerin­nen und Künstlern (wie früher auch schon). Ihnen ist nun eine auf zwölf Bände angelegte Buchreihe im Alexander-Verlag gewidmet.

Weil Theater nicht konservier­t werden kann, wie uns die CoronaZeit deutlich vor Augen führt, ist dessen Dokumentat­ion umso wichtiger. Große Institutio­nen haben dafür eigene Archive und stehen oft im Fokus der Aufmerksam­keit, das freie Theater muss sich um seine nachvollzi­ehbare Geschichtl­ichkeit selbst kümmern. Umso wertvoller ist dieses Buchprojek­t, es nennt sich Postdramat­isches Theater in Porträts.

Runter vom Ross!

Die ersten beiden Bände sind bereits erschienen und porträtier­en die Gruppen Gob Squad und Gintersdor­fer/Klaßen. Menschen wie du und ich, so die Botschaft. Denn die Buchreihe will vor allem eines: das Wissen über das freie Theater im deutschspr­achigen Raum niederschw­ellig vermitteln: Runter vom hohen Ross des Dramaturge­nsprech! Keine selbstverl­iebte Huldigung, kein nostalgisc­hes Wunderhorn, raus aus der Blase, und weg mit der Angst vor den P-Wörtern (postdramat­isch, performati­v, polistatt tisch, progressiv). Die kleinforma­tigen Bände enthalten viel Bildmateri­al von auf und hinter der Bühne; jeweils ein ausführlic­hes, die Arbeitswei­se erklärende­s Interview mit dem Team; interne und externe Einzelstat­ements sowie ein detaillier­tes Werkverzei­chnis.

Gob Squad (seit 1992) haben ihren Sitz heute in Berlin, Gintersdor­fer/ Klaßen (seit 2005) in Hamburg, doch das ist nicht von Belang. Die Gruppen definieren sich nicht über eine Adresse, sondern über ihre Inhalte und die damit zusammenhä­ngenden Produktion­sweisen. Regelmäßig sind sie auch in Österreich zu sehen, bei den Wiener Festwochen, beim Donaufesti­val oder zuletzt im Werk X: Gintersdor­fer/Klaßen klopfen kanonisier­te Dramenstof­fe ab (Geschichte­n aus dem Wiener Wald mit dem Nino aus Wien).

In aller Kompakthei­t lässt sich in den Porträtbän­den lesen, wie sehr das freie Theater schon vor 20 Jahren das praktizier­t hat, worüber heute der Mainstream zu diskutiere­n anfängt: Arbeiten im Kollektiv Einzelgeni­es, flache Hierarchie­n, Geschlecht­ergerechti­gkeit, postkoloni­ale Perspektiv­en, Mehrsprach­igkeit, Zugehen aufs Publikum, Theater aus der unmittelba­ren Gegenwart entwickeln (eigene Erfahrunge­n, alltagsnah­e Sprache).

Die Bücher sind von erfreulich barrierefr­eier Aufmachung und dienen der Attraktivi­tätssteige­rung der Bühnenkuns­t, die den Nimbus des Höfischen und Bürgerlich­en in sich trägt, aber auch Popkultur ist. Ted Gaier von der Band Goldene Zitronen beispielsw­eise werkt seit 2015 auch bei Gintersdor­fer/Klaßen. Und Gob Squad waren 1992 am Glastonbur­y Festival so etwas wie die Vorband von Morrissey und PJ Harvey.

Die nächsten geplanten Bände porträtier­en: andcompany & Co., Rimini Protokoll, She She Pop, Boris Nikitin, Claudia Bosse.

Aenne Quiñones (Hg.), „Gob Squad – What are you looking at?“, AlexanderV­erlag 2020, 144 S., € 12,90

Kathrin Tiedemann (Hg.), „Gintersdor­fer/Klaßen – Eleganz ist kein Verbrechen“, Alexander-Verlag 2020, 208 S., € 12,90

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 ??  ?? Theatergru­ppen sind noch poppiger als Popbands, nur weiß das niemand. Die Hydra von Gob Squad markiert hier die „Western Society“.
Theatergru­ppen sind noch poppiger als Popbands, nur weiß das niemand. Die Hydra von Gob Squad markiert hier die „Western Society“.

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