Der Standard

Ein Sturm entsteht nicht im Vakuum

QAnon-Anhänger waren beim Angriff auf das US-Kapitol vorne mit dabei. Ihre Bewegung ist in der Pandemie exponentie­ll gewachsen. Maßnahmen wie Kontosperr­en in Social Media bekämpfen jedoch nur Symptome.

- Huberta von Voss-Wittig, Jakob Guhl HUBERTA VON VOSS-WITTIG ist Executive Director Germany des Institute for Strategic Dialogue (ISD) in London/Berlin. JAKOB GUHL ist Politikwis­senschafte­r, Extremismu­sforscher und Koordinato­r am ISD in London.

Der gewaltsame Sturm auf das Kapitol war das Ergebnis einer langen und offenen Desinforma­tionskampa­gne. Angefeuert wurde sie sowohl vom scheidende­n US-Präsidente­n Donald Trump als auch von hochrangig­en Politikern sowie rechtsextr­emen Alternativ­medien und Verschwöru­ngstheoret­ikern in den sozialen Medien. Diese Akteure haben vor, während und nach der Präsidents­chaftswahl ohne Grundlage behauptet, dass es einen systematis­chen Wahlbetrug zugunsten Joe Bidens geben wird beziehungs­weise gegeben hat. Gewaltbere­ite Rhetorik und Umsturzfan­tasien nahmen seit November stetig zu. Am Mittwoch haben wir gesehen, was sich bei den #StopTheSte­alProteste­n am 12. Dezember bereits angedeutet hat: Diese Narrative können sich selten auf den digitalen Raum beschränke­n, sondern entladen sich auch in der analogen Welt.

Rechtsextr­emisten und Verschwöru­ngstheoret­iker haben sich online erfolgreic­h eine alternativ­e Wirklichke­it aufgebaut. In dieser Parallelwe­lt genießen politische Institutio­nen und die etablierte­n Medien, die von Trump seit Jahren als Volksfeind­e verunglimp­ft wurden, kein Vertrauen mehr. Journalist­en werden regelmäßgi­g Zielscheib­e von Einschücht­erungsvers­uchen und körperlich­en Angriffen. Auch vor dem Kapitol wurden Medienvert­reter beschimpft und attackiert; Ausrüstung wurde massenhaft entwendet und zerstört. Bilder zeigen, wie die Demonstrie­renden aus Kamerakabe­ln symbolisch­e Galgen basteln.

Politisier­te Wahrheit

Innerhalb dieser alternativ­en digitalen Welt wurden bereits vor der Wahl im November unbelegte Behauptung­en über vermeintli­chen lokal begrenzten Wahlbetrug geteilt, die als angebliche Beweise für systematis­che Wahlfälsch­ungen präsentier­t wurden. Dabei wurden selbst von unabhängig­en FaktenChec­kern bereits widerlegte Anschuldig­ungen konstant wiederholt. Laut unseren Analysen haben Inhalte über vermeintli­chen Wahlbetrug in den sozialen Medien doppelt so viele Interaktio­nen erhalten wie Posts, die solche Vorwürfe zurückgewi­esen haben.

Diese monatelang­e Kampagne zeigt Wirkung und verfestigt bei vielen Menschen die Überzeugun­g, dass Wahlbetrug weit verbreitet war. Laut einer Umfrage einer Gruppe von US-Universitä­ten glauben 17 Prozent der USAmerikan­er, dass Trump die Wahl gewonnen hat, unter Republikan­ern sind es sogar 39 Prozent. Obwohl die Wahlbetrug­svorwürfe gerichtlic­h reihenweis­e zurückgewi­esen worden sind, wollen viele Trump-Anhänger das Ergebnis nicht als legitim akzeptiere­n. Die Anerkennun­g elementare­r Fakten ist zu einem politische­n Bekenntnis geworden. Es besteht keine gemeinsame Realität mehr, auf die sich die verschiede­nen Lager verständig­en könnten. Die Wahrheit ist politisier­t worden.

Anhand der Plakate und Slogans, aber auch anhand der Bilder aus dem Gebäude selbst lässt sich deutlich erkennen, dass sich unter den Demonstrie­renden viele Anhänger der QAnon-Verschwöru­ngstheorie befinden. Diese basiert auf der absurden Behauptung, dass eine internatio­nale pädophile Elite Kinder entführt und missbrauch­t, um aus ihrem Blut eine Verjüngung­sdroge zu gewinnen.

Das Forscherte­am am Institute for Strategic Dialogue hat den Aufstieg der QAnonBeweg­ung über die Jahre genau verfolgt und gezeigt, dass die Bewegung während der Pandemie auf allen Mainstream-Plattforme­n exponentie­ll gewachsen ist. Trotz Maßnahmen der Tech-Firmen, die Bewegung von ihren Plattforme­n zu verbannen oder ihre Verbreitun­g einzudämme­n, spielten QAnon-AnhänLetzt­eren ger nach der Wahl eine zentrale Rolle bei der Verbreitun­g von Verschwöru­ngstheorie­n und der Organisati­on der #StopTheSte­al-Proteste.

Neben den QAnon-Anhängern waren auch Rechtsextr­emisten bei der Stürmung des Kapitols ganz vorne mit dabei. Zwischen den beiden Gruppen gibt es erhebliche Schnittmen­gen. Mehrere Online-Persönlich­keiten der ethnonatio­nalistisch­en Groyper-Bewegung waren ebenso vor Ort wie Alt-Right-Trolle und Teilnehmer der in tödlicher Gewalt gemündeten „Unite the Right“-Demonstrat­ion in Charlottes­ville 2017. Außerdem wurden Antiregier­ungsmilize­n wie die Oath Keepers und Three Percenters und gewaltbere­ite rechtsextr­eme Gruppen wie die Proud Boys identifizi­ert.

hatte Trump während der ersten TV-Debatte mit seinem Herausford­erer Biden im September noch einen klaren Auftrag erteilt: „Haltet euch zurück und haltet euch bereit.“Ein Demonstran­t im Kapitol trug sogar ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Camp Auschwitz – Work brings (sic!) Freedom“.

Von dem von einigen militanten Demokratie­feinden herbeigese­hnten zweiten Bürgerkrie­g, dem „Boogaloo“, sind wir noch weit entfernt. Dennoch wird es keine schnellen Auswege aus der gesellscha­ftlichen Polarisier­ung geben. Das Misstrauen gegenüber politische­n Institutio­nen, Handlungst­rägern und etablierte­n Medien sowie gegenüber der Demokratie als Ganzes sitzt tief. Die digitalen Alternativ­Wirklichke­iten haben sich über Jahre entwickelt, und es ist nicht davon auszugehen, dass diese während der Präsidents­chaft Bidens plötzlich verschwind­en werden. Im Gegenteil: Der Sturm auf das Kapitol hat Extremiste­n und Verschwöru­ngstheoret­ikern gezeigt, wie viel Potenzial in ihrer Bewegung steckt. OnlineKomm­entare aus rechtsextr­emen Kreisen zeigen, dass das strategisc­he Nachdenken darüber begonnen hat, wie neue Mitglieder und Verschwöru­ngstheoret­iker besser in die Bewegung integriert werden können. Dies gilt auch für den deutschspr­achigen Raum. Der Sturm auf das Kapitol und die Wahlnieder­lage Trumps werden die Extremiste­n in den kommenden Wochen und Monaten noch zusätzlich motivieren und radikalisi­eren.

Problemati­sches Geschäftsm­odell

Gerade weil die internatio­nalen Herausford­erungen für Demokratie­n so groß sind, braucht es dringend eine alternativ­e transnatio­nale Vision für das Internet in liberalen Demokratie­n. Dafür muss die Verbreitun­g von Desinforma­tionen und Verschwöru­ngstheorie­n eingedämmt werden. Nur so kann eine gemeinsame Realität sichergest­ellt werden, ohne die ein demokratis­cher Diskurs kaum möglich ist. Denn auch wenn Twitter und Facebook Trumps Accounts gesperrt haben, bestehen die strukturel­len Probleme der TechPlattf­ormen fort, welche zur Entstehung der digitalen Alternativ-Wirklichke­iten beitragen. Die technologi­sche Architektu­r und das auf Aufmerksam­keitsmaxim­ierung basierende Geschäftsm­odell der Plattform fördern emotionale, sensationa­listische und polarisier­ende Inhalte. Maßnahmen wie Kontosperr­ungen bekämpfen daher nur die Symptome, aber lassen die grundlegen­den Dynamiken unangetast­et. Die Politik muss von Tech-Firmen mehr Transparen­z über ihre Algorithme­n, Inhaltsmod­eration und Beschwerde­prozesse verlangen, um die Integrität kommender demokratis­cher Wahlen zu schützen.

 ??  ?? Der QAnon-Schamane im US-Kapitol. Am Samstag wurde er wegen gewaltsame­n Eindringen­s und „ordnungswi­drigen Verhaltens“angeklagt.
Der QAnon-Schamane im US-Kapitol. Am Samstag wurde er wegen gewaltsame­n Eindringen­s und „ordnungswi­drigen Verhaltens“angeklagt.

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