EZB-Direktorin warnt vor Rückkehr der Inflation
Langfristig könnten sich preisdämpfende Trends in der westlichen Welt umkehren
Wien – Riesige Geldmengen werden von den Notenbanken in die Finanzmärkte gepumpt, die Regierungen helfen Betrieben und Beschäftigten mit Hilfen und Konjunkturspritzen über die Runden. Derartige staatliche Eingriffe können auch die Inflation anheizen. Doch derzeit ist davon weit und breit nichts zu sehen – im Gegenteil. In der Eurozone sanken in den letzten Monaten die Preise, es herrscht derzeit somit sogar Deflation.
Doch das muss nicht so bleiben, sagt die Direktorin der Europäischen Zentralbank (EZB), Isabel Schnabel. „Die Inflation ist nicht tot“, so die Deutsche im STANDARD-Interview. „Nur weil wir im Moment in einer Phase sind, in der ein bestimmtes Phänomen nicht auftritt, gibt es keinen Grund zu vermuten, dass es gar nicht mehr existiert, erklärt Schnabel weiter.
Sie gibt zu bedenken, dass in den letzten Jahren vor allem die wachsende Bedeutung Chinas die Preisentwicklung im Zaum hielt. Weil immer mehr Produkte in dem Niedriglohnland produziert werden können, sanken die Preise für Kühlschränke, Computer oder TV-Geräte. Die damit einhergehende Globalisierung bremste in westlichen Ländern die Lohnforderungen der Arbeitnehmer. Dazu kommen die technologischen Fortschritte, insbesondere die Digitalisierung, die die Inflation dämpften. Doch diese Trends könnten sich langfristig umkehren, sagt Schnabel.
Rückstau bei Ausgaben
In den kommenden Monaten erwartet die EZB bereits einen deutlichen Preisanstieg, wenn allerdings auch auf niedrigem Niveau und die Zentralbank ihr Inflationsziel von knapp unter zwei Prozent über das Jahr 2021 wohl wieder verfehlen dürfte. Sofern die Impfkampagnen gut anlaufen, könnte es über den Sommer zu deutlich mehr Ausgaben für Dienstleistungen kommen, so Schnabel. Insbesondere bei Reisen und Restaurantbesuchen wäre das der Fall. Das würde zu einem Preisanstieg führen. Hinzu kommt ein Effekt durch höhere Energiepreise. Diese waren im Frühjahr 2020 auf einen Tiefpunkt gefallen. Jeder Anstieg hier macht sich bei einer Inflation 2021 deutlich bemerkbar. Schnabel erwartet kurzfristig „durchaus eine gewisse Dynamik“.
Auf solche vorübergehende Schwankungen werde die EZB nicht reagieren. Im Gespräch warnt Schnabel zudem ausdrücklich davor, krisenbedingte Staatsausgaben zu früh zurückzufahren, das wäre ein schwerer Fehler. (red)
Die Industrieländer geben im Kampf gegen die Corona-Pandemie Rekordsummen aus, ihre Verschuldung ist auf 125 Prozent der Wirtschaftsleistung gestiegen. Parallel pumpen die wichtigen Zentralbanken hunderte Milliarden in die Finanzmärkte. Doch wirklich spüren tut das bisher niemand. Denn möglich ist das alles nur, weil die Inflation extrem niedrig ist und damit verbunden auch die Zinsen. Wie lange bleibt das so?
Standard: Gibt es so etwas wie Inflation überhaupt noch?
Schnabel: Die Inflation ist nicht tot. Im Vergleich zum langen Lauf der Wirtschaftsgeschichte sind es nur relativ wenige Jahre, in denen die Inflation so niedrig war wie aktuell. Und nur weil wir im Moment in einer Phase sind, in der ein bestimmtes Phänomen nicht auftritt, gibt es keinen Grund zu vermuten, dass es gar nicht mehr existiert.
Standard: Warum?
Schnabel: Dass die Inflation seit mehreren Jahren so niedrig ist, hat vor allem mit strukturellen Veränderungen unseres Wirtschaftslebens zu tun. Die Globalisierung, insbesondere der Eintritt Chinas in den Welthandel, hat das globale Arbeitsangebot
erhöht und die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer – und damit den Lohnanstieg – gesenkt. Das hat dämpfend auf die Preisentwicklung gewirkt. Die Digitalisierung hat dazu geführt, dass die Transparenz bei Preisen und damit der Wettbewerb gestiegen ist, denken Sie an den Onlinehandel. Außerdem könnte die Demografie eine Rolle spielen: Aufgrund der Alterung der westlichen Gesellschaft wurde im Schnitt mehr gespart, zugleich wurde weniger investiert. Aber diese Faktoren können sich wieder verändern.
Standard: Wodurch?
Schnabel: Manche Ökonomen, wie der Brite Charles Goodhart, argumentieren, dass die Inflation wieder deutlich steigen wird, weil sich die oben genannten Faktoren umkehren könnten. Mit der Alterung könnte das globale Arbeitsangebot zurückgehen, die Löhne könnten steigen, und die Globalisierung könnte sich abschwächen. Die Menschen, die für das Alter gespart haben, könnten nun damit beginnen, mehr auszugeben, während das Güterangebot nicht in demselben Maße steigt. Hinzu kommt, dass die Digitalisierung zu einem Anstieg der Marktmacht in manchen Bereichen geführt hat. Solche längerfristigen Trends lassen sich allerdings nur schwer prognostizieren, und es könnte auch anders kommen.
Standard: Die EZB lag mit ihren Prognosen zuletzt ständig falsch: Sie sagt seit Jahren einen Anstieg der Inflation voraus, der aber nie kommt.
Schnabel: Die vergangenen Jahre waren eine sehr ungewöhnliche Zeit. Die Wirtschaft war einer Serie von Schocks ausgesetzt, die die Inflation gedämpft haben. Zunächst kam die Finanzkrise, dann die Eurokrise. Solche Schocks werden durch
die Modelle nicht erfasst. Nun hat die Pandemie die Inflation über die vergangenen Monate nochmals deutlich nach unten gedrückt. Wir erwarten jedoch, dass sich das ändern wird und es 2021, ausgehend von den derzeitigen negativen Niveaus, zu einem Anstieg der Inflation kommen wird.
Standard: Wodurch?
Schnabel: Der Rückgang der Energiepreise war ein wesentlicher Grund, warum die Inflation 2020 stark gesunken ist. Dämpfend wirkten auch die temporären Umsatzsteuersenkungen,
allen voran in Deutschland, weil die Bundesrepublik im Index ein so großes Gewicht hat. Die Steuersenkung in Deutschland ist jetzt ausgelaufen. Bei den Energiepreisen dürfte bald ein kräftiger Anstieg relativ zum Vorjahr feststellbar sein, weil die Preise im Frühjahr 2020 so niedrig waren.
Standard: Wird das mehr als ein Aufflackern der Inflation sein?
Schnabel: Kurzfristig kann sich durchaus eine gewisse Dynamik entwickeln. Stellen Sie sich vor, die Impfung erfolgt schneller, als manche es derzeit befürchten, sodass im Sommer wieder etwas Normalität eintritt. Dann kann es sein, dass es bei den Dienstleistungen, wie Reisen oder Restaurantbesuchen, durch die aufgestaute Nachfrage zu einem Preisschub kommt. Aber eine solche kurzfristige Entwicklung darf man nicht mit einem anhaltenden Anstieg der Inflation verwechseln, der voraussichtlich nur sehr langsam eintreten wird. Deshalb würde das unsere geldpolitischen Entscheidungen, die auf einen mittelfristigen Horizont ausgerichtet sind, nicht wesentlich beeinflussen.
Standard: Als Folge der Pandemie wird die EZB 1,85 Billionen Euro an Zentralbankgeld schaffen und dafür Staatsanleihen kaufen. Im Gegensatz zur Krise 2008 vergeben die Banken derzeit eifrig Kredite. Die Geldmenge steigt. Wenn die Inflation nicht tot ist: Wird sich das nicht massiv auswirken?
Schnabel: Im Moment gibt es keine Anzeichen dafür, dass man sich über eine zu hohe Inflation Sorgen machen muss. Wir erleben eine ausgeprägte Nachfrageschwäche. Es ist zu befürchten, dass die Krise längerfristige Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben wird. Insgesamt überwiegt vermutlich das Problem, dass die wirtschaftliche Nachfrage zu schwach ist, nicht dass es zu Kapazitätsengpässen kommt, weshalb die Preise eher zu langsam steigen dürften.
Standard: Aber was sagen Sie Menschen, denen angesichts dieser Summen mulmig wird und die warnen, dass sich das auswirken muss?
Schnabel: Das Dilemma der EZB und anderer Zentralbanken ist, dass wir aufgrund struktureller Faktoren mit einem langfristigen Rückgang des allgemeinen Zinsniveaus konfrontiert sind, was dazu geführt hat, dass man mit der konventionellen Geldpolitik, also der Zinspolitik, an Grenzen gestoßen ist. In einer derartigen Situation hat eine Zentralbank keine andere Wahl als zu anderen Instrumenten überzugehen, wie den Anleihekäufen. Abhilfe kann hier nur staatliche Politik schaffen, indem sie für nachhaltiges Wachstum sorgt und Investitionen anregt. Dann steigt auch das allgemeine Zinsniveau wieder an.
Standard: Staaten müssten also mehr ausgeben?
Schnabel: Ja. Aber es geht nicht nur darum, mehr auszugeben, sondern es richtig zu tun. Die Produktivität und das Wachstumspotenzial müssen steigen. Einfach Transferzahlungen zu erhöhen hilft nicht.
Standard: Sie sind eine deutsche Ökonomin, dort wurde das Dogma der schwarzen Null, also ein ausgeglichener Haushalt, propagiert. Jetzt sagen Sie: Staaten müssen mehr ausgeben.
Schnabel: Es besteht auch in Deutschland weitgehender Konsens, dass es in der Pandemie notwendig ist, die Staatsausgaben und die Verschuldung zu erhöhen. Es wäre ein gewaltiger Fehler, aus Sorge vor höheren Schulden die Ausgaben zurückzufahren oder mitten in der Krise zu beginnen zu sparen. Bei der Frage, wie tragfähig die Staatsfinanzen sind, geht es wesentlich darum, die Zinsen und die Wachstumsperspektiven abzuwägen. Solange das Wachstum langfristig stärker ist als die Entwicklung bei den Zinsen, hat man kein Problem. Wenn man also die Schulden nach der Krise abbauen will, ist die Förderung des Wirtschaftswachstums das beste Instrument.
Standard: In der Eurozone gibt es strikte Vorgaben dazu, wie sich Schulden und Defizite entwickeln müssen. Heißt das, diese numerischen Zielvorgaben sind überholt?
Schnabel: Diese Zahlen sind ja nicht ökonomisch begründet, das waren politische Festlegungen. Bei niedrigen Zinsen ist die Tragfähigkeit höher. Wichtiger als die konkreten Zahlen sind aber die Mechanismen der Fiskalregeln. Die jetzigen Regeln binden in schlechten Zeiten zu stark und in guten zu wenig.
ISABEL SCHNABEL ist seit Jänner 2020
Mitglied des EZBDirektoriums, davor war sie eine der fünf Wirtschaftsweisen, die regelmäßig die ökonomische Lage in Deutschland bewerten.
„Bei Dienstleistungen wie Reisen oder Restaurantbesuchen kann es durch die aufgestaute Nachfrage zu einem Preisschub kommen.“