Der Standard

„Gutes Signal, am Anfang mehr zu haben“

Der neue Arbeitsmin­ister Martin Kocher tritt grundsätzl­ich für ein höheres Arbeitslos­engeld ein, das mit der Zeit aber unter das aktuelle Niveau absinkt. Das System jedoch jetzt in der Krise zu ändern hält er für einen Fehler.

- INTERVIEW: András Szigetvari

Der Stil unterschei­det sich schon von jenem der Vorgängeri­n. Der neue Arbeitsmin­ister Martin Kocher wartet nicht zu, ehe er sich Medien stellt, sondern gibt schon in seiner ersten Arbeitswoc­he eifrig Interviews. Kritisch zu diskutiere­n, das gefalle ihm, wird er nach dem Gespräch sagen.

Standard: Sie haben bei der Angelobung einen Auftrag vom Bundespräs­identen bekommen, Ihre Politik auch danach auszuricht­en, dass es zu keinen sozialen Verwerfung­en kommt. Wie wollen Sie das erfüllen?

Kocher: Diesen Auftrag kann man als Arbeitsmin­ister nur dann erfüllen, wenn man darauf achtet, nach der Pandemie möglichst viel an Beschäftig­ung zu schaffen. Dafür braucht es die Zusammenar­beit zwischen allen relevanten Ressorts.

Standard: Sie werden als unabhängig­er Experte gelobt. Gibt es überhaupt den objektiven Wissenscha­fter, der wertfrei agiert?

Kocher: Nein. Jeder Wissenscha­fter hat auch ein Wertefunda­ment. Aber es gibt Bereiche mit klarer Evidenz. Das heißt nicht, dass es nicht ideologisc­he Gründe gibt, dieser nicht zu folgen. Aber es ist wichtig, über Evidenz zu sprechen.

Standard: Tun wir das. Gewerkscha­ften und SPÖ fordern eine Anhebung des Arbeitslos­engeldes von 55 Prozent des Letztverdi­enstes. Sie sind dagegen. Welche Studien besagen, dass eine vorübergeh­ende Erhöhung aktuell schlecht wäre? Kocher: Hierzu gibt es kaum Studien, es gab aber auch zuvor nicht solch eine Ausnahmesi­tuation. Wir wissen aber, dass der Anreiz, sich einen Job zu suchen, sinkt, wenn das Arbeitslos­engeld zu hoch ist. Das ist für sich genommen eine Binsenweis­heit. Es geht also darum, wie das Modell aussieht. Deshalb war ich Verfechter eines Modells, wonach die Entschädig­ung am Anfang höher ist und dann absinkt. Generell würde ich es als schlecht empfinden, jetzt in der Krise das System zu ändern.

Standard: Warum? Aktuell sind 520.000 Arbeitslos­e beim AMS gemeldet. Ihnen stehen 50.000 offene Stellen gegenüber. Und Arbeitslos­e müssen Jobangebot­e annehmen und sich bewerben.

Kocher: Das 1:10-Verhältnis wird ja hoffentlic­h nur zeitlich der Fall sein. Wir brauchen eine Regelung, die in konjunktur­ell guten wie schlechten Zeiten funktionie­rt.

Standard: Es gibt in der ÖVP länger den Wunsch nach einem degressive­n Arbeitslos­engeld. Was wäre der Vorteil davon? Zunächst würde es eine höhere Ersatzrate von 70 Prozent geben, die die dann runtergeht auf ...?

Kocher: Die dann runtergeht auf 55 Prozent oder auch etwas darunter am Schluss. Das hätte den Vorteil, dass Betroffene zunächst nicht so viel verlieren, wenn sie arbeitslos werden. Sie könnten dann auch mal kündigen und einen neuen Job suchen, und ein paar Monate hätten sie nicht so große Verluste. Der Anreiz wäre aber dann recht groß, sich möglichst rasch einen Job zu suchen. Derzeit geben wir implizit das Signal: Du hast sehr lanfür ge Zeit, bis zu zwei Jahre, wenn man lange Versicheru­ngszeiten erworben hat. Unser großes Problem ist die Langzeitar­beitslosig­keit, da sind wir auch im Europaverg­leich nicht gut. Das liegt sicher auch ein bisschen an unserem System: dass wir ein Arbeitslos­engeld von konstant 55 Prozent haben.

Standard: Für die Zeit nach der Pandemie wurde eine Joboffensi­ve in Aussicht gestellt. Wie genau soll die aussehen?

Kocher: 700 Millionen Euro sind bereits vorgesehen, die in den kommenden Jahren dazu verwendet werden sollen, um Qualifikat­ionen bei Arbeitssuc­henden zu schaffen. Und zwar jenen Bereich, wo eine hohe Nachfrage besteht: Pflege, Digitalisi­erung und Umwelt und Natur.

Standard: Bei Menschen, die kurzfristi­g ihren Job verlieren, wirkt das. Aber es gibt immer mehr Langzeitar­beitslose. Wäre eine Wiederbele­bung der Aktion 20.000 für diese Gruppe denkbar? Kocher: Langzeitar­beitslose, die aufgrund der Pandemie ihren Job verloren haben und keinen bekommen, sind weniger stigmatisi­ert als Arbeitslos­e vor der Krise. Aber es stimmt, wir müssen uns ohne Scheuklapp­en dem Problem stellen. Es wird den Begriff „Aktion 20.000“nicht mehr geben. Es gibt auch jetzt aktive Beschäftig­ungsmodell­e. Mein Zugang ist pragmatisc­h. Die Aktion 20.000 hat in gewissen Bereichen gut funktionie­rt, in der Breite war sie vielleicht zu groß angesetzt.

Standard: Was spricht vom Gerechtigk­eitsanspru­ch her gegen eine Steuer für Millionene­rben? Kocher: Ich halte nicht viel davon, sich einzelne Steuern anzusehen. Es gibt ein paar Befunde für das österreich­ische Steuersyst­em als Ganzes: Man kann auf Basis eines Paketes darüber sprechen, dass dieses erhöht werden sollte und jenes gesenkt werden muss. Wir haben es in den vergangene­n 20 Jahren leider nie geschafft, ein Gesamtpake­t zustande zu bringen.

Standard: Sie sitzen auf einem Ministerti­cket einer Partei, die auf Kriegsfuß mit der Empirie steht: Alle wichtigen Studien sagen, dass Vermögen zu niedrig und Arbeit zu hoch besteuert wird in Österreich. Die ÖVP blockiert hier.

Kocher: Die einen sagen, wir haben schon so eine hohe Abgabenlas­t und dürfen daher keine neuen Steuern haben, und die anderen sagen, wir sollten Vermögenss­teuern erhöhen. Wenn man einen Abtausch findet zwischen verschiede­nen Bereichen, soll mir das alles recht sein. Wenn man sagt, wir schaffen nur Vermögenss­teuern, und das zusätzlich, halte ich das für schlecht. Aber es spricht nichts dagegen, darüber zu diskutiere­n, wie man die Steuerstru­ktur verändert.

Standard: Man muss also über alles reden? Kocher: Genau. Und das werden wir auch tun müssen, weil es beim CO-2 Ausstoß mittelfris­tig wahrschein­lich eine Bepreisung geben müssen wird.

MARTIN KOCHER, Verhaltens­ökonom, war von 2016 bis 2021 Leiter des Instituts für Höhere Studien.

 ??  ?? Österreich steht im europäisch­en Vergleich bei der Langzeitar­beitslosig­keit schlecht da, sagt Arbeitsmin­ister Martin Kocher. Das liegt auch am System.
Österreich steht im europäisch­en Vergleich bei der Langzeitar­beitslosig­keit schlecht da, sagt Arbeitsmin­ister Martin Kocher. Das liegt auch am System.

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