„Gutes Signal, am Anfang mehr zu haben“
Der neue Arbeitsminister Martin Kocher tritt grundsätzlich für ein höheres Arbeitslosengeld ein, das mit der Zeit aber unter das aktuelle Niveau absinkt. Das System jedoch jetzt in der Krise zu ändern hält er für einen Fehler.
Der Stil unterscheidet sich schon von jenem der Vorgängerin. Der neue Arbeitsminister Martin Kocher wartet nicht zu, ehe er sich Medien stellt, sondern gibt schon in seiner ersten Arbeitswoche eifrig Interviews. Kritisch zu diskutieren, das gefalle ihm, wird er nach dem Gespräch sagen.
Standard: Sie haben bei der Angelobung einen Auftrag vom Bundespräsidenten bekommen, Ihre Politik auch danach auszurichten, dass es zu keinen sozialen Verwerfungen kommt. Wie wollen Sie das erfüllen?
Kocher: Diesen Auftrag kann man als Arbeitsminister nur dann erfüllen, wenn man darauf achtet, nach der Pandemie möglichst viel an Beschäftigung zu schaffen. Dafür braucht es die Zusammenarbeit zwischen allen relevanten Ressorts.
Standard: Sie werden als unabhängiger Experte gelobt. Gibt es überhaupt den objektiven Wissenschafter, der wertfrei agiert?
Kocher: Nein. Jeder Wissenschafter hat auch ein Wertefundament. Aber es gibt Bereiche mit klarer Evidenz. Das heißt nicht, dass es nicht ideologische Gründe gibt, dieser nicht zu folgen. Aber es ist wichtig, über Evidenz zu sprechen.
Standard: Tun wir das. Gewerkschaften und SPÖ fordern eine Anhebung des Arbeitslosengeldes von 55 Prozent des Letztverdienstes. Sie sind dagegen. Welche Studien besagen, dass eine vorübergehende Erhöhung aktuell schlecht wäre? Kocher: Hierzu gibt es kaum Studien, es gab aber auch zuvor nicht solch eine Ausnahmesituation. Wir wissen aber, dass der Anreiz, sich einen Job zu suchen, sinkt, wenn das Arbeitslosengeld zu hoch ist. Das ist für sich genommen eine Binsenweisheit. Es geht also darum, wie das Modell aussieht. Deshalb war ich Verfechter eines Modells, wonach die Entschädigung am Anfang höher ist und dann absinkt. Generell würde ich es als schlecht empfinden, jetzt in der Krise das System zu ändern.
Standard: Warum? Aktuell sind 520.000 Arbeitslose beim AMS gemeldet. Ihnen stehen 50.000 offene Stellen gegenüber. Und Arbeitslose müssen Jobangebote annehmen und sich bewerben.
Kocher: Das 1:10-Verhältnis wird ja hoffentlich nur zeitlich der Fall sein. Wir brauchen eine Regelung, die in konjunkturell guten wie schlechten Zeiten funktioniert.
Standard: Es gibt in der ÖVP länger den Wunsch nach einem degressiven Arbeitslosengeld. Was wäre der Vorteil davon? Zunächst würde es eine höhere Ersatzrate von 70 Prozent geben, die die dann runtergeht auf ...?
Kocher: Die dann runtergeht auf 55 Prozent oder auch etwas darunter am Schluss. Das hätte den Vorteil, dass Betroffene zunächst nicht so viel verlieren, wenn sie arbeitslos werden. Sie könnten dann auch mal kündigen und einen neuen Job suchen, und ein paar Monate hätten sie nicht so große Verluste. Der Anreiz wäre aber dann recht groß, sich möglichst rasch einen Job zu suchen. Derzeit geben wir implizit das Signal: Du hast sehr lanfür ge Zeit, bis zu zwei Jahre, wenn man lange Versicherungszeiten erworben hat. Unser großes Problem ist die Langzeitarbeitslosigkeit, da sind wir auch im Europavergleich nicht gut. Das liegt sicher auch ein bisschen an unserem System: dass wir ein Arbeitslosengeld von konstant 55 Prozent haben.
Standard: Für die Zeit nach der Pandemie wurde eine Joboffensive in Aussicht gestellt. Wie genau soll die aussehen?
Kocher: 700 Millionen Euro sind bereits vorgesehen, die in den kommenden Jahren dazu verwendet werden sollen, um Qualifikationen bei Arbeitssuchenden zu schaffen. Und zwar jenen Bereich, wo eine hohe Nachfrage besteht: Pflege, Digitalisierung und Umwelt und Natur.
Standard: Bei Menschen, die kurzfristig ihren Job verlieren, wirkt das. Aber es gibt immer mehr Langzeitarbeitslose. Wäre eine Wiederbelebung der Aktion 20.000 für diese Gruppe denkbar? Kocher: Langzeitarbeitslose, die aufgrund der Pandemie ihren Job verloren haben und keinen bekommen, sind weniger stigmatisiert als Arbeitslose vor der Krise. Aber es stimmt, wir müssen uns ohne Scheuklappen dem Problem stellen. Es wird den Begriff „Aktion 20.000“nicht mehr geben. Es gibt auch jetzt aktive Beschäftigungsmodelle. Mein Zugang ist pragmatisch. Die Aktion 20.000 hat in gewissen Bereichen gut funktioniert, in der Breite war sie vielleicht zu groß angesetzt.
Standard: Was spricht vom Gerechtigkeitsanspruch her gegen eine Steuer für Millionenerben? Kocher: Ich halte nicht viel davon, sich einzelne Steuern anzusehen. Es gibt ein paar Befunde für das österreichische Steuersystem als Ganzes: Man kann auf Basis eines Paketes darüber sprechen, dass dieses erhöht werden sollte und jenes gesenkt werden muss. Wir haben es in den vergangenen 20 Jahren leider nie geschafft, ein Gesamtpaket zustande zu bringen.
Standard: Sie sitzen auf einem Ministerticket einer Partei, die auf Kriegsfuß mit der Empirie steht: Alle wichtigen Studien sagen, dass Vermögen zu niedrig und Arbeit zu hoch besteuert wird in Österreich. Die ÖVP blockiert hier.
Kocher: Die einen sagen, wir haben schon so eine hohe Abgabenlast und dürfen daher keine neuen Steuern haben, und die anderen sagen, wir sollten Vermögenssteuern erhöhen. Wenn man einen Abtausch findet zwischen verschiedenen Bereichen, soll mir das alles recht sein. Wenn man sagt, wir schaffen nur Vermögenssteuern, und das zusätzlich, halte ich das für schlecht. Aber es spricht nichts dagegen, darüber zu diskutieren, wie man die Steuerstruktur verändert.
Standard: Man muss also über alles reden? Kocher: Genau. Und das werden wir auch tun müssen, weil es beim CO-2 Ausstoß mittelfristig wahrscheinlich eine Bepreisung geben müssen wird.
MARTIN KOCHER, Verhaltensökonom, war von 2016 bis 2021 Leiter des Instituts für Höhere Studien.