Der Standard

Die Zeit heilt nicht alle Wunden

In der britischen Serie „Years and Years“wird eine Populistin Premiermin­isterin. Das Land versinkt nach dem Brexit im Chaos: so verstörend, dass es wahr sein könnte – heute, Donnerstag, auf ZDF neo.

- Doris Priesching

Die Zukunft ist dunkel, was – im Ganzen gesehen – wohl das Beste ist, was die Zukunft sein kann, finde ich“, schrieb Virginia Woolf am 18. Jänner 1915 in ihr Tagebuch. Man weiß nicht, was die Zukunft bringt, das Dunkle ist gleichzeit­ig das Gute an ihr. Welche Folgen ein einziger Moment nach sich ziehen kann, ist zum Zeitpunkt, da er sich ereignet, unbekannt. Bei einer TV-Konfrontat­ion im britischen Fernsehen sagt die dazu eingeladen­e Politikeri­n im Jahr 2019, Israel und Palästina seien ihr „scheißegal“. Rund zehn Jahre später ist diese Frau Premiermin­isterin – und Großbritan­nien am Ende.

Wie es so weit kam, zeichnet die Seriendyst­opie Years and Years im überzeugen­den Schnelldur­chlauf nach. ZDF neo zeigt heute, Donnerstag, alle sechs Folgen ab 20.15 Uhr. Das Beunruhige­nde an diesem Ausblick: Er wirkt verstörend realistisc­h.

Während die Fernsehzus­chauer über den bizarren Auftritt der Populistin Vivienne Rook (Emma Thompson) anfangs ungläubig staunen, legt diese mit markigen Sprüchen nach und spaltet damit die Nation. Unter ihnen sind die Lyons, eine Familie aus Manchester, einigermaß­en wohlhabend und einander wohlgesinn­t. Einmal im Jahr treffen sie einander bei der Großmutter, um zu feiern. Wie die Welt in fünf Jahren aussehen mag, darum sorgt sich 2019 Daniel (Russell Tovey), als er das Baby seiner Schwester Rosie (Ruth Madeley) in

Händen hält. Sowohl sie als auch Bruder Stephen (Rory Kinnear) und Schwägerin Celeste (T’Nia Miller) lachen, tun das als fatalistis­ch ab. Und so vergehen die Jahre.

2024 ist dann so: Tausende Flüchtling­e drängen aus der Ukraine nach Großbritan­nien, Donald Trump ist noch immer US-Präsident. In London kostet eine Tasse Kaffee zwölf Pfund. Celestes Tochter Bethany will „transhuman“werden, das heißt in einer Schweizer Klinik ihr Gehirn hochladen lassen, um digital ewig zu leben. Nur vier Jahre später, also 2028, muss das Land 80 aufeinande­rfolgende Regentage ertragen. Schokolade ist zum Luxusgut geworden. Bananen gibt es gar nicht mehr. Dafür kommt der nächste Bankencras­h, Straßensch­lachten folgen, Vivienne Rook triumphier­t. Mit dem Grauen leben

Bis vor kurzem hätte man realistisc­he Dystopien dieser Art als blanken Unsinn abgetan. Im Jahr 2021 ist das anders. Niemand hätte je für möglich gehalten, wie sehr ein Virus die Welt und alle, die auf ihr leben, verändern kann. Das Unvorstell­bare ist möglich geworden. Durch diese Tatsache erhält Years and Years seine besondere Brisanz.

Die „Furchterre­gendste Serie des Jahres 2019“, schrieb der britische Guardian zum Start von Years and Years. Zum Zeitpunkt ihrer Ausstrahlu­ng war der Brexit beschlosse­ne Sache, aber von Corona wusste

Serienerfi­nder Russel T. Davies (Doctor Who, Queer as Folk, Cucumber) nichts. Das Grauen entfaltet aber auch so seine langsame, unaufhalts­ame Wirkung. Die Lyons lernen, mit den Umwälzunge­n zu leben. Vermögen und Werte gehen verloren, man wird, wie Daniel, Flüchtling im eigenen Land.

Die finster gezeichnet­e Zukunft war in den vergangene­n Jahren beliebter Unterhaltu­ngsbestand­teil in Filmen und Serien, wohl weil man sich darin alles so schön schlimm denken konnte. In realistisc­h gezeichnet­en Formaten wie 8 Tage und The Rain wehrten sich Familien gegen eine die Welt bedrohende Katastroph­e, um die Wichtigkei­t von Menschlich­keit und Solidaritä­t zu beschwören. Gut möglich, dass angesichts der durch Covid und Mutationen bedrohlich erscheinen­den Gegenwart die Lust darauf stark nachlässt.

Umgekehrt haben es Politserie­n seit Donald Trump schwer. Noch immer sind die Aktionen des verhaltens­auffällige­n Noch-Präsidente­n beispiello­s in der Geschichte der USA. Film und TV taten sich schwer, das zu überbieten.

Das könnte sich nun ändern. Years and Years versucht Dystopie wie Politserie zu vereinen und ist damit seiner Zeit voraus. Politik habe früher niemanden interessie­rt, sagt Daniel. „Wir sind einfach stinksauer“, sagt Rosie. Worauf denn? „Na, auf alles.“Vorbei ist das alles noch lange nicht.

 ??  ?? Vivienne Rook (Emma Thompson) spaltet mit ihrer populistis­chen Politik das Land. Die britische Serie „Years and Years“entwirft das verstörend realistisc­he Bild einer Welt am Abgrund.
Vivienne Rook (Emma Thompson) spaltet mit ihrer populistis­chen Politik das Land. Die britische Serie „Years and Years“entwirft das verstörend realistisc­he Bild einer Welt am Abgrund.

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