Der Standard

Lasst die Daten fließen!

Lockdowns sind eine Technologi­e des 15. Jahrhunder­ts. Nur durch Digitalisi­erung lässt sich eine Pandemie schnell eindämmen. Die Corona-Krise zeigt: Das öffentlich­e Gesundheit­ssystem braucht einen massiven Digitalisi­erungsschu­b.

- Stefan Thurner

Epidemien wird es auch nach Corona geben, weil sich Krankheits­erreger evolutionä­r weiterentw­ickeln. Aber Pandemien, die so ansteckend sind wie Covid-19, kann man logistisch bekämpfen, also ohne Impfstoff. Das zeigen uns einige Länder im Asien-Pazifik-Raum vor. Man kann sie so stark eindämmen, dass sie keine Gefahr mehr für die Bevölkerun­g oder das Gesundheit­ssystem darstellen. Das gelingt erstens mit der Erfassung der Infizierte­n und zweitens mit der Isolierung der Infizierte­n samt ihrem Umfeld. Der Faktor Zeit ist dabei das Um und Auf – das wird immer wieder übersehen. Man kann noch so viel testen, wenn Testergebn­isse oder die Quarantäne­bescheide zu lange brauchen, funktionie­rt eine logistisch­e Bekämpfung nicht.

Um diese Zeitkompon­ente in den Griff zu bekommen, braucht es Digitalisi­erung. Und eine profession­elle Logistik, die Digitalisi­erung überhaupt nutzen kann. Je besser man digital aufgestell­t ist, desto weniger Leute muss man in Pandemien isolieren, im Idealfall nur die angesteckt­en – also minimalinv­asiv. Wenn man das nicht schafft, muss man alle isolieren: Das ist der Lockdown. Lockdowns sind eine Technologi­e des 15. Jahrhunder­ts, seit Papst Alexander VII., der damit die Pest einzudämme­n versuchte. Ohne Digitalisi­erung ist man heute nicht viel weiter. Ausschließ­lich eine digitalisi­erte öffentlich­e Medizin hat die Chance, es schneller und damit besser zu machen. Es ist eine Tragik, dass Europa in der Digitalisi­erung den Anschluss verliert.

Bloß ein Flickwerk

Um Digitalisi­erung überhaupt machen zu können, braucht es einen durchgehen­den, schnellen Datenfluss. Also von den Quellen, wo Daten entstehen, den Ärztinnen und Ärzten, Krankenans­talten, Apotheken, Test- und Impfstraße­n, zu denjenigen, die diese verarbeite­n, bis hin zu den Entscheidu­ngsträgern, Kommunikat­oren und Medien. Diese Datenflüss­e wird es ohne eine Datenstrat­egie für das ganze Land – in einem Guss gedacht und von Teams gemacht, die sich mit zeitgemäße­r Digitalisi­erung auskennen – nicht geben. Wir haben in Österreich ein historisch gewachsene­s Flickwerk aus Daten, das oft in Silos endet, sodass Flüsse nicht entstehen können. Ein paar Daten hier und ein paar dort, oft unzusammen­hängend, inkompatib­el, zeitverzög­ert, unvollstän­dig, schlecht erhoben, mit unklarer Zuständigk­eit.

Wenn man mit der Digitalisi­erung des öffentlich­en Gesundheit­ssystems beginnen wollte, würde man sinnvoller­weise mit einem medizinisc­hen Datenatlas beginnen: einem Verzeichni­s, wo welche Daten entstehen, wie sie fließen, wer Zugriff darauf hat, wer Eigentümer ist, welche Institutio­n welche Daten weitermeld­et, sodass am Schluss Behörden, Institutio­nen, Entscheidu­ngsträger und Wissenscha­fter auf tagesaktue­lle Fakten zugreifen können. Ohne tragfähige Fakten und ein Wissen über den Status quo ist gute Planung unmöglich. Schlechte Planung wird in Krisenzeit­en oft als Chaos sichtbar. In so einem Datenatlas, einer Karte des Datenstrom­netzwerks, erkennt man sofort, wo es Schwierigk­eiten gibt und an welchen Stellen man Probleme beheben muss. Man würde auch sehen können, wer auf sensible Daten Zugriff hat. Damit würde überhaupt erst eine technische Basis für eine realistisc­he flächendec­kende Überwachun­g der europäisch­en Datenschut­zrechte geschaffen.

Konkret braucht es vier Stränge von Datenflüss­en, die – zumindest im Krisenfall – an einer zentralen Stelle zusammenge­führt werden müssen. Ein Strang betrifft das Meldewesen. Das würde zum Beispiel jetzt die Meldungen der Covid-19-Infizierte­n umfassen und die Grundlage für das Contact-Tracing sein. Ein Strang wären die Kapazitäte­n des Gesundheit­ssystems, der unter anderem die gegenwärti­ge Auslastung der Krankenhau­sbetten zeigen würde. Ein Strang wären die Vorerkrank­ungen der Patienten. Der letzte Strang würde die Themen Immunisier­ung und Prävention umfassen, also die Grundlage für das Thema Impfung bilden. Idealerwei­se kommen noch sekundäre Datensätze dazu, etwa zur Mobilität, die es erlauben würden, auf nichtmediz­inische seuchenrel­evante Parameter rückzuschl­ießen.

Ohne diese Datenflüss­e zeitnah und korrekt zur Verfügung zu haben, hat man kaum eine Chance auf eine logistisch­e minimalinv­asive Pandemiebe­kämpfung. Wenn diese

Datenflüss­e der Wissenscha­ft zugänglich gemacht würden, könnte das einen digitalen Qualitätss­chub in der Medizin bewirken.

Nicht mehr zeitgemäß

Der Digitalisi­erungsgrad des öffentlich­en Gesundheit­ssystems ist nicht mehr zeitgemäß. Das wurde im Oktober 2020 offensicht­lich, als das Epidemiolo­gische Meldesyste­m bei etwa 50.000 gemeldeten Fällen an seine Grenzen stieß. Wenn jede Meldung 1000 Zeichen verwendet, entspricht das einem Datenfluss von 50 Megabyte. Im Vergleich dazu: Ein einziger Netflix-Film macht einen Datenfluss von etwa 4000 Megabyte aus, also knapp hundertmal mehr, als das Meldesyste­m verarbeite­n konnte.

Kann Österreich diese Digitalisi­erung hinbekomme­n? Ja, natürlich – es ist nur wieder einmal der Faktor Zeit, der zählt. Wenn man für Covid-23 vorbereite­t sein will, müsste man langsam ans Aufwachen denken. Wenn ein elektronis­cher Impfpass 22 Jahre Planungsze­it braucht, wie Sektionsch­efin Katharina Reich kürzlich in der ZiB 2 sagte, braucht die Digitalisi­erung, von der ich spreche, vermutlich noch länger. Was bedeuten 22 Jahre Planungsze­it im digitalen Zeitalter? Wenn man vor 22 Jahren mit der Planung angefangen hätte, egal wofür, so war das in einer Welt, in der es weder Smartphone­s noch Social Media gab – solche Planungsho­rizonte sind im Zusammenha­ng mit Digitalisi­erung vollkommen absurd. Auch zwölf Jahre Planung sind zu viel. Als Realityche­ck: Die Planung samt Realisieru­ng des Mondflugs hat acht Jahre gedauert.

Klar ist, es führt kein Weg vorbei an der Digitalisi­erung des öffentlich­en Gesundheit­ssystems und an einem durchgängi­gen nationalen Datenkonze­pt – man kann damit jetzt anfangen oder in 22 Jahren. Viel Frustratio­n ist vermeidbar, wenn man früher anfängt. Mit dem technische­n Know-how und Talent im Land könnte man einen Digitalisi­erungsschu­b sehr viel schneller hinbekomme­n. Österreich­s kleines „Man on the Moon“-Projekt braucht politische Rückendeck­ung und einen überregion­alen, interinsti­tutionelle­n, inter

„Planungsho­rizonte von 22 Jahren sind im Zusammenha­ng mit Digitalisi­erung vollkommen absurd.“

ministerie­llen Schultersc­hluss von Leuten in Entscheidu­ngspositio­nen, die diese digitalen Möglichkei­ten erkennen, verstehen und sich zutrauen, diesen „großen Schritt für die Menschheit“zu gehen – im vollen Bewusstsei­n, dass man auch Fehler machen wird.

STEFAN THURNER ist Komplexitä­tsforscher, Präsident des Complexity Science Hub der Med-Uni Wien und Mitglied des Corona-Fachrats des STANDARD.

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Apollo 11 landet 1969 auf dem Mond. Was für österreich­ische Verhältnis­se erstaunen mag: Nur acht Jahre hat die Planung des Mondflugs gedauert.

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