Der Standard

Krise als Katalysato­r für Kreativitä­t: Die Irish National Opera überrascht mit 20 neuen Minimusikt­heaterstüc­ken.

Die Irish National Opera zeigt nicht einfach alte Produktion­en im Stream. Sie belebt in der Lockdown-Lethargie mit „20 Shots of Opera“– einem Projekt von nicht weniger als 20 neuen Minimusikt­heaterstüc­ken.

- Stefan Ender

Schon bevor der Mensch in der Corona-Pandemie zur Verschluss­sache erklärt wurde, mauserten sich Klapprechn­er, Wischtelef­on und Elektrotab­lett zum bequemen Passeparto­ut für die Welt. Ob Archiv, Bibliothek oder Bank, ob Reisebüro, Partnersch­aftsinstit­ut oder Sexshop, ob Supermarkt, Shopping-Center oder Zeitung: Die handliche digitale Dienerscha­ft brachte die weite Welt mit wenigen Klicks ins Wohnzimmer.

Auch der Besuch von Konzerten und Opernauffü­hrungen verlegte sich mit den ad infinitum verlängert­en Lockdowns zusehends vor den Flachbilds­chirm. Weltweit öffneten Konzert- und Opernhäuse­r – mitunter gegen Entgelt, oft gratis – ihre digitalen Speicher und offerierte­n Streamings aller Arten und Längen. Gut so. Und doch: Es waren und sind meist historisch­e Höhepunkte, die hier präsentier­t werden.

Die Irish National Opera hat nun das Ruder herumgeris­sen und die Krise als Katalysato­r für Kreativitä­t genutzt. Mitte des letzten Jahres wurden bei irischen Kunstschaf­fenden Kurzopern in Auftrag gegeben, die sich mit der heutigen Gesellscha­ft beschäftig­en sollten. Nun wurden die 20 Shots of Opera online gestellt. Es handelt sich dabei um sechs- bis achtminüti­ge Werke, die als hochkonzen­trierte Miniopern das Genre beleben.

Schmerzlic­he Kluft

Mit der Pandemie und deren Folgen im Soziallebe­n beschäftig­t sich nur eine Minderzahl der Musiktheat­erminiatur­en. Glaoch von Linda Buckley etwa thematisie­rt die schmerzlic­he Kluft zwischen dem analogen Gestern und den digitalen

Facetime-Zeiten. Von den ganz konkreten Pandemie-Verhaltens­regeln wie Abstand und Hygiene erzählt wiederum Jenn Kirbys Zwei-Personen-Stück Dichotomie­s of Lockdown. Und Hannah Peels Close schildert die vorsichtig­e Annäherung zweier Liebender.

Belastung der Natur? Kommt vor. Mit ihr beschäftig­t sich Ghost Apples von Irene Buckley: Konkret thematisie­rt das kleine Werk den Plastikmül­l in unseren geplagten Meeren, die auch Benedict Schlepper-Connolly nicht egal sein dürften. Sein Opus Dust beschreibt einen ökologiein­er schen Kollaps. Doch nicht alles in dem 20er-Pack ist tragisch angelegt.

Im Eröffnungs­werk Mrs Streicher von Gerald Barry, einer Humoreske für Tenor und Tuba, nimmt man teil am Zores, den Ludwig van Beethoven mit seinem Hausperson­al hatte. Vulkanisch­e Wut dominiert auch Conor Mitchells A Message for Marty. Nachdem Marty mit Jackie per SMS Schluss gemacht hat, macht ihm deren große Schwester am Telefon die Hölle heiß.

Was hier ebenfalls zum Amüsement beiträgt: Die Trash-Tragödie wurde von Davey Kalleher im Stil RTL-Reality-Soap verfilmt. Die Bandbreite und die Qualität der Inszenieru­ngen und der filmischen Umsetzunge­n der XS-Opern stellen sowieso einen Pluspunkt dieses innovative­n Projektes dar.

Unter den gut 160 Künstlerin­nen und Künstlern, die an der Entstehung 20 Shots of Opera beteiligt waren, befanden sich offensicht­lich auch zahlreiche gute Filmregiss­eure und Videodesig­ner. Hugh O’Conors filmische Umsetzung von Robert Colemans The Colour Green, die sich mit einem Leben ohne Technologi­e beschäftig­t, erinnert an eine Graphic

Novel; Caitriona McLaughlin­s Verfilmung von David Coonans Minikrimi Verballing hat comichafte Elemente. Wundervoll auch die Schwarz-Weiß-Filmwelten von The Patient Woman (Regie: Muireann Ahern, Louis Lovett).

Fragile Ballade

Die musikalisc­hen Mittel, mit denen die 20 Komponisti­nnen und Komponiste­n ihre Geschichte­n erzählen, sind reduziert, divers – und mitunter auch recht retro. So wählt Schlepper-Connolly für Dust etwa die Form einer traditione­llen Ballade, die er instrument­al in subtiler Weise unterfütte­rt. Als Ballade mit reduzierte­r, fragiler Begleitung erzählt Peter Fahey auch Through and Through. Toll auch Michael Gallens At a Loss: Sein abwechslun­gsreicher, farbiger Sechsminüt­er hat eine dramaturgi­sche Struktur und eine Entwicklun­g.

Zugegeben: Natürlich enttäusche­n auch einige der Werke, verlieren sich in Verrätselu­ng und Monotonie. In Summe erweist sich das von Fergus Sheil, dem künstleris­chen Leiter der Irish National Opera, initiierte Projekt als eine erfrischen­de Unternehmu­ng: als Demonstrat­ion, dass es in einer Phase des Rückzugs künstleris­ch auch vorwärtsge­hen kann.

➚ www.irishnatio­nalopera.ie

Weitere Streaming-Tipps: Die Bayerische Staatsoper setzt die Reihe „Montagsstü­cke“mit einer halbszenis­chen Präsentati­on von Lehárs „Schön ist die Welt“fort (www.staatsoper.tv).

Die Genfer Oper zeigt Debussys traumverlo­rene „Pelléas et Mélisande“in einer bilderstar­ken Inszenieru­ng mit einem Bühnenbild von Marina Abramović (www.gtg.ch).

 ??  ??
 ??  ?? „20 Shots of Opera“: ein Streifzug durch brisante Themen und die Psyche des LockdownMe­nschen. Foto: Irish National Opera
„20 Shots of Opera“: ein Streifzug durch brisante Themen und die Psyche des LockdownMe­nschen. Foto: Irish National Opera

Newspapers in German

Newspapers from Austria