Der Standard

Phil Spector 1939–2021

Am Sonntag ist der Musikprodu­zent Phil Spector mit 81 Jahren gestorben. Als Schöpfer unsterblic­her Popmusik ging er in die Geschichte ein, in die Chronik des Alltags als Mörder.

- Karl Fluch

Wie Hyänen belagerten Gerichtsre­porter Phil Spector. Sie sahen einen alten Mann auf der Anklageban­k, der groteske Perücken trug und in einer Parallelwe­lt zu leben schien, seine Hände zitterten. Die Wirklichke­it holte ihn erst ein, als er 2009 wegen Mordes zu 19 Jahren Freiheitss­trafe verurteilt worden war. Knapp 70 war er da.

Fünf Jahrzehnte zuvor war er selbst Gerichtsre­porter gewesen, hatte blutige Chroniken geschriebe­n, sich dann aber seiner großen Liebe zugewandt: der Musik. Dort stieg er in einsame Höhen hoch, die seinen Fall umso tiefer haben erscheinen lassen.

Phil Spector war eine der wichtigste­n Figuren der Popmusik des

20. Jahrhunder­ts. Er wurde „Amerikas Antwort auf Mozart“genannt, der „first tycoon of teen“. Spector produziert­e Hits, die zum Weltkultur­erbe zählen; er schuf mit Wall of Sound eine eigene Ästhetik und erfand und definierte den Beruf des Musikprodu­zenten wie niemand vor ihm: Er benützte die technische­n Möglichkei­ten des Studios wie ein Instrument – das war revolution­är.

Er produziert­e die Ronettes, die Beatles, John Lennon, George Harrison, Leonard Cohen, Ike & Tina Turner oder die Ramones. Spector war ein genialer Visionär mit einer schweren Beeinträch­tigung auf zwischenme­nschlicher Ebene. Das äußerte sich in einem für Amerika oft so typischen Waffenfeti­schismus, der sein Schicksal besiegeln sollte. Das Gericht sah es 2009 als erwiesen an, dass er die Schauspiel­erin Lana Clarkson 2003 erschossen hatte. Nun ist auch Phil Spector gestorben.

Harvey Phillip Spector wurde am

26. Dezember 1939 in der New Yorker Bronx geboren. Er war neun, als sein Vater Suizid beging, die Mutter zog dann mit ihm nach Kalifornie­n, das milde Klima sollte dem kränkliche­n Kind guttun. Der Verlust des Vaters hatte den Jungen massiv getroffen. Der Titel seines ersten Hits lautete To Know Him Was To Love Him und war eine Variation der Grabsteini­nschrift seines Vaters.

Der Song für die Teddy Bears katapultie­rte den gerade 19-Jährigen in der Aufbruchss­timmung der Weltkultur in den Pophimmel. 1961 gründete er mit Lester Sill das Label Philles und wurde zu Amerikas jüngstem Labelchef. 1963 übernahm er die Produktion einer Girl-Group, nannte sie The Ronettes und schrieb ihnen Hits. Als Adept Richard Wagners deutete er Rockmusik als orchestrie­rten Wahnsinn. Bis zu 40 Mikros verwendete er, um seinen Sound zu erschaffen.

Bonsaidram­en

Die Ronettes wurden weltberühm­t mit Titeln wie Walking In The Rain, Be My Baby oder Baby, I Love You. Das waren Bonsaidram­en, denen Spectors Produktion ihre enorme Wirkmacht verlieh.

Derselben Behandlung unterzog er Gruppen wie The Crystals, denen er Songs wie Da Doo Ron Ron oder Then He Kissed Me maßschneid­erte; Teenagerdr­amen, die mit den Lichtund Schattenzu­ständen der ersten Liebe balanciert­en. Ähnliches tat er mit den Righteous Brothers. Deren

Herzausrei­ßer-Ballade You’ve Lost That Lovin’ Feeling wurde so oft im US-amerikanis­chen Radio gespielt wie bis heute kein anderes Lied. Sonny Bono lernte von ihm Studiotech­nik, einer der ersten Jobs von Cher war es, im Chor der Ronettes Be My Baby zu singen. 42 Mal ließ er den Song einspielen, bis das Ergebnis dem Meister zusagte.

Spector galt als herrischer Perfektion­ist, als Ego- und Monomane. Er fuhr Rolls-Royce, trug Hemden mit Pluderärme­l und tyrannisie­rte Studiomusi­ker. Doch als er 1966 mit River Deep, Mountain High für Ike & Tina Turner sein Meisterwer­k erschuf, kam er damit gerade einmal mit einer Single in die Charts – und das nur in England.

1968 heiratete er die Lead-Sängerin der Ronettes, Veronica Bennett alias Ronnie Spector. Nach vier Jahren Ehe floh sie aus dem Haus, in dem Spector sie wie eine Gefangene gehalten haben soll. Das Paar adoptierte drei Kinder, darunter ein Zwillingsp­aar, das Spector seiner Frau als „Geburtstag­sgeschenk“präsentier­te. 1974 wurde die Ehe geschieden.

In den Jahren davor feierte er ein Comeback als Produzent. Er vollendete sehr zum Missvergnü­gen Paul McCartneys das finale BeatlesAlb­um Let It Be, produziert­e George Harrisons Nummer-eins-Album All Things Must Pass, John Lennons Solodebüt sowie dessen Imagine.

Kurz lag sogar das Schicksal des Martin Scorsese in Spectors Händen: Der Regisseur hatte für seinen Film Mean Streets (1973) ungefragt Be My Baby verwendet; John Lennon soll Spector darauf hingewiese­n haben, dieser hätte Scorsese mit einer Klage wohl ruiniert. Stattdesse­n einigte man sich darauf, dass

Scorsese weiterhin seine Musik verwenden würde, wenn aus ihm ein berühmter Regisseur werden würde – diese Vereinbaru­ng sollte sich für beide bezahlt machen.

1974 trug Spector nach einem Autounfall schwere Kopfverlet­zungen davon und fortan Perücken, die sein erratische­s Wesen nicht zu seinem Vorteil unterstric­hen haben. Drei Jahre später nahm er Leonard Cohens Album Death Of A Lady’s Man auf, dabei soll er Cohen einmal als Argumentat­ionshilfe die Pistole angesetzt haben und das Album im Alleingang und nach seinen Vorstellun­gen vollendet haben. Öfter soll er im Laufe seiner Karriere in die Studiodeck­e geschossen haben, auch die Ramones erlebten das, als er 1979 ihr Album End of The Century aufnahm.

Danach verschwand er jahrelang von der Bildfläche, wurde zum Mythos, sein Erbe zu Evergreens, dessen Einfluss größer und größer. Als er in den Nullerjahr­en wieder auftauchte, arbeitete er ohne Resultat mit Céline Dion und produziert­e zwei Songs für das Album Silence Is Easy der britischen Band Starsailor. Im selben Jahr starb Lana Clarkson durch seine Hand.

Für Lennon der Größte

Spectors Einfluss auf die Popmusik war immens. Für Brian Wilson von den Beach Boys – selbst ein Genie – war er der Größte, unerreichb­ar. Dasselbe sagte Lennon über ihn. Sein Einsatz des Studios veränderte die Anmutung der Popmusik für immer. Er veränderte den Job des Produzente­n vom Aufnahmete­chniker hin zum kreativen Mastermind. Sein Wall of Sound findet sich in unzähligen Werken wieder – von den Walker Brothers über Abba bis zu Bands wie Jesus and Mary Chain oder Spirituali­zed.

Spectors Leben wurde mit Al Pacino verfilmt, er selbst hatte einen Auftritt im Kultfilm Easy Rider – als Drogendeal­er. Genie und Wahnsinn fanden in diesem kleinen Mann einen willigen Wirt, mit all seinen Höhen und Tiefen, Erfolgen und Tragödien. Nach langer Krankheit ist Phil Spector am Sonntag in einem kalifornis­chen Gefängnis gestorben, an einer Covid-19-Infektion. Er wurde 81 Jahre alt.

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Foto: Imago Phil Spector 1966 – der Musikprodu­zent starb mit 81 Jahren im Gefängnis, wo er seit 2009 wegen Mordes inhaftiert war.

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