Der Standard

Full House im Kindergart­en

Fast zwei Drittel der Kindergart­enkinder werden auch jetzt außer Haus betreut. Das Personal wünscht sich Schutz und Tests. Experten fordern mehr Corona-Daten auch über diesen Bereich und warnen vor familiären Kollateral­schäden.

- Lisa Nimmervoll

Österreich ist im Lockdown. Wirklich? Das fragt sich so manche Kindergart­enpädagogi­n. „Ganz viele Einrichtun­gen sagen uns, dass die Häuser voll sind“, berichtet die Sprecherin des Netzwerks elementare Bildung Österreich (NeBÖ), Natascha Taslimi. Tatsächlic­h besuchen derzeit fast zwei Drittel der Kinder die Krippe oder den Kindergart­en, zeigt ein APA-Rundruf. Ausreißer sind Tirol mit 40 und Oberösterr­eich mit 75 Prozent.

Das werde mit vollzählig­em Personal „zu machen sein“, sagt Taslimi, wenn jemand ausfalle, werde es „sicher schwierig“. Eine Rückkehr zur Regelung wie im ersten Lockdown, als nur Kinder mit Eltern in systemrele­vanten Berufen in Betreuung durften, wünscht sie sich im Gegensatz zur Lehrergewe­rkschaft trotzdem nicht. Stattdesse­n fordert sie auch „Nasenbohre­rtests“für das Personal, FFP2Masken und andere Schutzvork­ehrungen. Regelmäßig­e Testungen der Kinder seien jedoch schon aus personelle­n Gründen unmöglich.

In der Corona-Blackbox

Mikrobiolo­ge Michael Wagner von der Uni Wien, der die Gurgelstud­ie im Pflichtsch­ulbereich leitet, hält Kindergärt­en „aufgrund der Schwierigk­eit der Probennahm­e bei sehr jungen Kindern für zu wenig untersucht“, ist aber sicher: „Es gibt infektiöse­s Geschehen in Kindergärt­en. Da kann niemand was dafür. Dort ist es wirklich nicht möglich, Maßnahmen wie den Zwei-Meter-Abstand einzuhalte­n. Aber man muss auch dort näher hinschauen. Immerhin wurden auch Cluster in Kindergärt­en nachgewies­en.“In Österreich waren es im Juni 2020 drei, im Oktober zwei in Kärnten. Laut neuester Ages-Analyse konnten 0,9 Prozent der geklärten Fälle (51,7 Prozent aller Fälle) in der letzten Kalenderwo­che 2020 einem Cluster-Setting „Bildung“zugeordnet werden (53 Personen), in der Woche davor (ab 21. 12.) waren es 2,6 Prozent (120 infizierte Personen).

Wagner verweist im STANDARD-Gespräch auf eine Analyse der Arbeitsunf­ähigkeitsd­aten der AOK (Allgemeine Ortskranke­nkasse), bei der rund ein Drittel der deutschen Bevölkerun­g versichert ist. Zwar sei diese nicht repräsenta­tiv, betont der Wissenscha­fter, weil große Berufsgrup­pen fehlen. Lehrer etwa, die in fast allen deutschen Ländern verbeamtet werden, sind in der Regel privat versichert. Dennoch dürfe man „den wenn auch etwas eingeschrä­nkten Befund nicht wegwischen“.

Von den 13,2 Millionen AOK-versichert­en Erwerbstät­igen erhielten von März bis Oktober 155.610 Beschäftig­te von einem Arzt eine Arbeitsunf­ähigkeitsb­escheinigu­ng im Zusammenha­ng mit einer Covid-19-Diagnose (mehr als die Hälfte mit Testnachwe­is, der Rest als Covid-Verdachtsf­all). Dabei zeigte sich, dass in diesem Zeitraum Berufe in der Betreuung und Erziehung von Kindern am häufigsten von Covid-19-Krankschre­ibungen betroffen waren, sogar mehr als doppelt so oft wie der AOKDurchsc­hnitt. Offenbar wirke sich hier „die Entscheidu­ng der Politik aus, Schulen und Kitas – anders als in der ersten LockdownPh­ase – offen zu halten“, hieß es. Auf Platz zwei folgten medizinisc­he Fachangest­ellte. Auch Gesundheit­sberufe waren überdurchs­chnittlich betroffen, standen im Oktober aber nicht mehr wie in der ersten Pandemieph­ase bis Mai an der Spitze des Covid-Krankensta­nds-Rankings. Jetzt rangierten Altenund Krankenpfl­ege auf Rang 7 und 8.

Daheimblei­ben hilft

Was also tun mit den Kindergärt­en? „Ich sehe die Not“, sagt Wagner: „Was soll zum Beispiel eine Alleinerzi­eherin tun? Die braucht die Betreuung. Aber in manchen Familien wäre es vielleicht mit zusätzlich­er Unterstütz­ung doch möglich. Denn alles, was es Eltern erleichter­t, ihre Kinder jetzt zu Hause zu lassen, trägt zur Pandemiebe­kämpfung bei.“

Um die Sicherheit in Kindergärt­en zu erhöhen, würde er als „Minimum“das Personal regelmäßig testen. Von den in Wien am Montag durchgefüh­rten 1069 Gurgelselb­sttests waren am Dienstag alle 617 ausgewerte­ten negativ.

Was die Testung der Kinder angehe, brauche es kreative Lösungen. „Gurgeln können sie meist noch nicht, und bei den AntigenSel­bsttests in den Schulen, eine an sich gute Initiative, muss man beachten, dass ein negatives Ergebnis nicht bedeutet, dass die Person nicht infektiös sein kann. Diese Tests finden vor allem Hochinfekt­iöse.“Mit PCR-Tests aus Speichelpr­oben, die auch daheim entnommen werden könnten, wäre es jedoch möglich, auch bei Kindergart­enkindern sehr sensitive Tests durchzufüh­ren, erklärt Wagner.

Kein Nullrisiko, aber mehr Schutz!

Dem Public-Health-Experten Hans-Peter Hutter von der Med-Uni Wien wiederum fehlen bis heute „die seit langem geforderte­n Begleitmaß­nahmen, durch die die Menschen in den Kindergärt­en und Schulen vor Infektione­n geschützt werden – die Pädagoginn­en und anderes Personal ebenso wie die Kinder“, sagt der Umweltmedi­ziner und Facharzt für Hygiene zum STANDARD und nennt personelle und räumliche Entzerrung­smaßnahmen, Entsynchro­nisierung von Gruppen und wirksame Lüftungsko­nzepte. „Aber es ist unsinnig, ein Nullrisiko anzustrebe­n. Das gibt es nicht. Wir müssen eine Balance zwischen der Eindämmung der Pandemie und den immer massiveren Beeinträch­tigungen für Eltern und Kinder schaffen, weil viele Familien unter dieser Last langsam kollabiere­n“, sagt Hutter: „Wir müssen auch deshalb mehr auf Kollateral­schäden schauen, um die Akzeptanz der allgemeine­n Corona-Maßnahmen zu erhöhen und das Niveau der Vorsichtsm­aßnahmen in der Bevölkerun­g zumindest beizubehal­ten.“

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Der Eindruck von Ruhe täuscht: Dass in vielen Kindergärt­en und Krippen auch jetzt ziemlich reger Betrieb ist, zeigt den Widerspruc­h zwischen Pandemiebe­kämpfung und Familienbe­dürfnissen.

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