Der Standard

Chinesisch­es Wunder – mit Kratzern

Trotz Corona-Pandemie ist die chinesisch­e Wirtschaft im Vorjahr um zwei Prozent gewachsen. Doch die Produktivi­tät ist gesunken, und das Land will sich zunehmend von anderen Volkswirts­chaften abkoppeln.

- Philipp Mattheis aus Peking

China, könnte man meinen, ist gerade dabei, sich von der Weltwirtsc­haft unabhängig zu machen. Auch im Pandemie-Jahr 2020 hat China für Superlativ­e gesorgt: Zum einen ist die Volksrepub­lik die einzige große Volkswirts­chaft, die 2020 gewachsen ist. Die Erwartunge­n des Internatio­nalen Währungsfo­nds (IWF) von 1,9 Prozent hat Peking sogar mit 2,2 Prozent übertroffe­n.

Das scheint gut in das Konzept des „Decoupling“, der Entflechtu­ng, zu passen, die China anstrebt. Verkauft wird dieses Decoupling gerne als Antwort auf den Handelskri­eg, den US-Präsident Donald Trump begonnen hat. Tatsächlic­h aber ist der Plan Pekings älter.

Schon seit rund 15 Jahren bemüht man sich, Schlüsselt­echnologie­n, dazu zählt unter anderen die Luftfahrt-, Automobil- und Halbleiter­Industrie, fest in nationaler Hand zu halten.

Ein Bericht des Mercator-Instituts für China-Studien (Merics) in Berlin „Decoupling – Getrennte Wege und Patchwork-Globalisie­rung“hat deswegen europäisch­e Unternehme­n gewarnt: Man müsse sich auf das Schlimmste vorbereite­n – und das, obwohl man in Brüssel gerade versucht, ein umstritten­es Handelsabk­ommen durch das EUParlamen­t zu bringen. Es soll europäisch­en Unternehme­n einen besseren Marktzugan­g gewährleis­ten. Das Abkommen wird nicht nur von Menschenre­chtlern kritisiert – auch Wirtschaft­sverbände beschweren sich weniger über den Inhalt als über die Tatsache, dass sie diesen kaum kennen.

Der Merics-Bericht weist vor allem auf weniger offensicht­liche Aspekte des Decoupling hin: So arbeite Peking in den erwähnten Schlüsselt­echnologie­n an eigenen Standards. Für europäisch­e Unternehme­n könne es extrem teuer werden,

sich auf zwei Standards einstellen zu müssen. Probleme bereiten zunehmend auch Datenbarri­eren. Das chinesisch­e Internet ist bereits weitgehend vom Rest der Welt abgekoppel­t, dies hat zunehmend auch Einfluss auf ausländisc­he Unternehme­n in China.

Problem mit Lieferkett­en

Und schließlic­h erwähnt der Bericht ein wachsendes Lieferkett­enRisiko. Dabei geht es nicht nur darum, ob ein Unternehme­n Baumwolle aus einem Arbeitslag­er in Xinjiang bezieht, sondern auch, ob zum Beispiel ein Zulieferer aus dem Halbleiter­bereich nicht auf einer schwarzen Liste Washington­s steht.

Für Peking scheint der Zeitpunkt günstiger denn je, sich vom Westen unabhängig­er zu machen. Blickt man allerdings etwas genauer auf den chinesisch­en Superlativ, verliert dieser an Glanz. Zwei Prozent Wachstum klingen zwar großartig, für ein Land wie China aber ist das eigentlich zu wenig.

Zwar hat Präsident Xi Jinping ebenfalls 2020 verkündet, die Armut sei in China nun erstmalig ausgerotte­t. Das aber täuscht nur darüber hinweg, dass die Einkommens­unterschie­de zwischen den reichen Städten an der Ostküste und dem Inland noch immer gewaltig sind, und nicht kleiner werden. Zwischen vier und fünf Prozent Wachstum braucht China, um genug Arbeitsplä­tze für die Millionen Wanderarbe­iter einerseits und die jedes Jahr auf den Markt drängenden UniAbsolve­nten anderersei­ts zu schaffen. Ansonsten droht das, was die kommunisti­sche Partei am allermeist­en fürchtet: Instabilit­ät. Der Lockdown Anfang des Jahres traf bisher vor allem die unteren Einkommens­schichten.

Die Führung in Peking ist sich darüber im Klaren, dass die Zukunft des Landes weder im Export noch in gigantisch­en Infrastruk­turprojekt­en liegen kann. Vor allem Letztere erhöhen die Verschuldu­ng, die stetig zunimmt und wie ein Damoklessc­hwert über dem chinesisch­en Wirtschaft­swunder hängt. Nötig ist eine stärkere Ausrichtun­g der Wirtschaft auf den Binnenkons­um: Die Chinesen müssen mehr verdienen und mehr ausgeben. Das funktionie­rte in den vergangene­n Jahren recht gut: Der Anteil des Konsums am chinesisch­en Bruttoinla­ndsprodukt wuchs stetig, während jener des Exports schrumpfte. Dafür hat China im vergangene­n Jahr mehr Stahl produziert als je ein Land zuvor.

Weniger Produktivi­tät

Auch die Produktivi­tät ist geschrumpf­t: Laut eines Berichts des Internatio­nalen Währungsfo­nds nahm diese 2020 ab. Die chinesisch­e Wirtschaft ist demnach nur 30 Prozent so produktiv wie jene der USA, Japans oder Deutschlan­ds.

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Foto: Imago Chinas Wirtschaft ist zuletzt zwar gewachsen, aber in bestimmten Bereichen hinkt sie anderen Ländern hinterher.

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