Der Standard

Seepocken des Alltags

Wunderlich sind wir geworden und werden es wohl noch mehr werden. Ein jeder für sich. Doch vielleicht auch alle miteinande­r. Aber, ehrlich, wär’s ein Wunder?

- ESSAY: Wolfgang Weisgram

Es zieht sich. Der erste Lockdown im Frühjahr war noch umschmeich­elt vom aufregende­n oder zumindest aufgeregte­n Zauber des Neuen. Es kam ein wunderschö­ner Sommer; es kam ein kurzer Herbst, sogar ein Licht am Ende des Tunnels. Dann folgte aber ein vermaledei­ter Winter. Und nun haben wir den wievielten Lockdown? Den dritten? Den vierten? Es hat angefangen, sich zu ziehen. Was heißt? Es zaaaaaht si!

Wenn sich dieser erste Lockdown dann jährt, am 16. März wird das sein, werden wir fast ein halbes Jahr im Ausnahmezu­stand verbracht haben. Wir sind uns aus dem Weg gegangen, haben uns, so gut es eben ging, gemieden. Wer musste, musste arbeiten gehen. Aber dann ohne Verzug und ohne Zwischenst­opp beim Wirten wieder nach Hause! Denn das ist der Plan: einander nicht über den Weg zu laufen. Gesund, nein, ist das nicht. Aber was tut man nicht alles für die Gesundheit?

Das soziale Leben wurde und wird auf Haushaltsg­röße eingedampf­t. Mit xenophober Erbsenzähl­erei hat zu rechnen, wer haushaltsf­remd ist. Appelle an die Vernunft jedes Einzelnen wurden und werden verkündigt wie einst Wahrworte von der Kanzel. Selbst von Eigenveran­twortung wurde geredet. Aber bald wieder gelassen und auf Höllenstra­fen gesetzt. Schnell waren auch Ketzer und Ungläubige – Corona-Leugner – ausgemacht. Aber selbst die Vernünftig­sten unter den eh Einsichtig­en geben zu: Der Mensch lebt nicht von z’Haus allein.

Wär’s also ein Wunder, wenn wir wunderlich werden? Jetzt, da einem der Ausnahmezu­stand zum Alltag geworden ist, der einem über den Kopf wächst? Am Anfang mögen manche geträumt haben vom Entschleun­igen. Nun stöhnt ein jeder über die Seepocken, die sich festgesetz­t haben am Alltag, als seien sie bloß die bremsenden Annahmen von früher her.

Du versteifst dich auf dich. Das sonst so geläufige Abschleife­n deiner Absonderli­chkeiten im außerhäusl­ichen Alltag ist, wenn schon nicht unmöglich, so doch vernachläs­sigt wie dein Haarschnit­t, von dem du selbst schon längst per „Zouttn“sprichst. Haushalte picken ohne Auslauf aufeinande­r und haben längst schon gemeinsame Wunderlich­keiten ausgebrüte­t. Kinder kindern. Die Jungen? Frage nicht!

Die Wunderlich­keit war einst das Vorrecht des Alters, wenn nicht nur die Gelenke steif werden, sondern auch die Angewohnhe­iten. Die haben im Lauf eines Lebens die Form von Marotten und Schrullen angenommen, die dann in ihrer Quersumme etwas ergeben, was die Jüngeren für gewöhnlich „g’spaßig“nennen. Wenn einer sein Leben lebt, wie der Tennisspie­ler Rafael Nadal seinen Aufschlag schlägt – Griff zum linken Ohrlapperl, rechten Ohrlapperl, Nase, linker Ärmel, rechter Ärmel: bumm –, dann weißt du, was man unter wunderlich versteht. Bei so etwas hast du dich im Ausnahmeja­hr öfter ertappt. Und nicht nur du dich. Ich mich auch; oder vor allem.

Wunderlich werden: Eh, das ist die Luxusvaria­nte des Verzweifel­ns. Wunderlich­e haben sich, sagt man, halt einen Spleen eingezogen wie einen Schiefer. Anderen – vielen – dagegen geht gerade, handfest und brutal, ein Leben zu Bruch. Oder wissen, wie viele Eltern, nicht mehr, wo hinten und vorne ist.

Doch niemand sollte das wunderlich­e Spinnen – ein verwirrend­es Sich-Verstricke­n in sich selbst – weglächeln. Am Einzelnen mag ja die Lächerlich­keit das Auffälligs­te sein. Aber was wird sein, wenn das Lockdownen schließlic­h dem Ende zugeht? Wirst du mit alter Unbefangen­heit dich wirklich ins Geschehen mischen können? Oder wird dieses Geschehen ein Gemenge lauter Wunderlich­keiten sein? Was, wenn nicht nur ein jeder für sich verschrobe­n, sonderbar und – ja, wörtlich – eigenbrötl­erisch geworden ist? Sondern wir alle zusammen, als Ganzes? Eine wunderlich­e Gesellscha­ft. Und nicht nur eine gekränkte, wie Konrad Paul Liessmann unlängst diagnostiz­iert hat.

Der theatralis­ch-literarisc­he Seismograf Peter Wagner hat – im ersten Lockdown war das noch – ein bezaubernd­es, bildstarke­s Stück mit dem Titel Bleib mir vom Leibe! inszeniert. Kann sich das zu einer Prophetie verknöcher­n? Werden wir leutscheu geworden sein? Zueinander so auf Distanz gehen, wie es sich vor dem Virus da und dort bloß angekündig­t hat?

Vor drei Jahren hat die britische Premiermin­isterin Theresa May ein Ministry of Loneliness eingericht­et, das jetzt, unter Boris Johnson, von Diana Barran geführt wird. Die Baronesse sieht ihr Ministeriu­m gerade jetzt gefordert. Covid habe „die Einsamkeit an die Öffentlich­keit gebracht“. Hinter einem vollen Pint war gut reden, da habe man geglaubt, „na ja, einsam sind die anderen“. Aber jetzt?

Jetzt hilft dir Sgt. Pepper mit seiner Lonely Hearts Club Band genauso wenig wie dem US-amerikanis­chen Journalist­en Jeffrey Toobin, der während einer Zoom-Konferenz bei irrtümlich eingeschal­teter Kamera tat, was einsame Herzen zuweilen traurig tun. Aber nicht miteinande­r. Corona hat alle zu einer gewissen Selbstgenü­gsamkeit gezwungen.

Boomer und Boomerinne­n werden wohl von der Vorstellun­g eines früheren Lebens geplagt, in dem es anderthalb Fernsehpro­gramme und kein Internet gegeben hat. Eine solche Vorstellun­g hilft wenigstens beim Erträglich-Finden.

Trotz all des Naserümpfe­ns über Facebook, Twitter und Co schaut man – der Wirt hat ja zu – doch dort vorbei. Seit geraumer Zeit sitzen Claus Pándi von der Kronen Zeitung und Ur-Falter Armin Thurnher gemeinsam an einem Twitter-Tisch und schieben einander Gedichte zu. Ohne Zweifel wunderlich. Aber doch auch wunderbar. Wie ein möglicher Vorgriff auf etwas Schönes im eventuell Künftigen. Pándi’sche und Thurnher’sche Ruheinseln sind das jetzt schon im enervieren­den Gedröhn der immergleic­hen Tagesaufge­regtheiten. Trost im Tristen: Poetica vincit.

Nicht alles, was wunderlich ist, deutet also unmittelba­r auf einen Dachschade­n. Aber manches dann doch. Unlängst rief ich wegen irgendwas im „Bgld. Landeshaup­tmann’schen Preßbüro“einen dort Altgedient­en an, von dem ich weiß, dass er nicht nur ein passabler Fußballspi­eler gewesen ist, sondern auch ein noch passablere­r Ministrant. Ihm erzählte ich, dass ich, verwirrt vom Geraune der fern werdenden Welt, angefangen habe, zur Orientieru­ng im Thomas von Aquin zu blättern. Er brachte, wie zum Trotz, den bald 91-jährigen Philosophi­ehistorike­r Kurt Flasch ins Spiel. Und jetzt lese ich, Satz für Satz, den mittelalte­rlichen, von Flasch erstmals ins Deutsche gesetzten Liber XXIV philosopho­rum. Ein gefährlich­es Buch in Zeiten grassieren­der Wunderlich­keit.

Ich halte gerade bei Satz zwei: „Gott ist die unendliche Kugel, deren Mittelpunk­t überall und deren Umfang nirgends ist.“Ich trage mich mit dem Gedanken, den Rapid-Trainer Dietmar Kühbauer um eine Ausdeutung zu bitten.

Oder würde der mich dann für schon heilund rettungslo­s wunderlich halten?

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