Der Standard

Sind unsere Freiheiten in Gefahr?

- Eric Frey

Hinter dem wachsenden Widerstand gegen Lockdown und andere Corona-Maßnahmen steht für viele die Sorge um die Grundfeste­n der liberalen Gesellscha­ft. Wo die Freiheit des Einzelnen endet, ist immer umstritten. Die Unsicherhe­it über die richtigen Mittel im Kampf gegen die Pandemie macht diese Frage besonders brisant.

Seit fast einem Jahr ringt das Land mit dem Coronaviru­s, steigt von Tag zu Tag die Zahl der Toten. Aber für einige ist die wirkliche Bedrohung nicht die Pandemie, sondern sind es die Einschränk­ungen ihrer Grundrecht­e durch den Staat. Und diese greifen in ihren Augen noch viel schneller um sich als das Virus selbst.

Das Unbehagen mit den Corona-Maßnahmen war von Anfang an da und ist im dritten Lockdown weiter gewachsen. Immer mehr Menschen schließen sich Anti-CoronaDemo­nstratione­n an und protestier­en gegen das, was sie als Frontalang­riff auf ihre Freiheit sehen: Abstandsre­geln, Maskenpfli­cht, Betriebs- und Schulschli­eßungen sowie als ultimative­s Angstszena­rio eine drohende Impfpflich­t. Rückendeck­ung erhalten sie von einigen Experten, die an der Wirksamkei­t der Maßnahmen zweifeln, und von Juristen, die die Rechtmäßig­keit der Gesetze und Verordnung­en infrage stellen.

Unter den Corona-Gegnern mag es zahlreiche Rechtsextr­emisten geben, die sich sonst um Grundrecht­e nicht scheren. Das Geschrei über die „Corona-Diktatur“beruht meist auf Verschwöru­ngstheorie­n oder stellt eine propagandi­stische Zuspitzung dar. Aber das Gefühl, dass der liberale Rechtsstaa­t in dieser Krise in Schieflage gerät, reicht weit in die Mitte der Gesellscha­ft hinein. Und wenn der Innenminis­ter mit härterem Vorgehen gegen Demonstran­ten droht, die auf ihren Protestmär­schen gegen Masken und Abstand diese verhassten Regeln verständli­cherweise ignorieren, dann fühlen sich diese Menschen in ihren schlimmste­n Befürchtun­gen bestätigt.

Die Freiheit des anderen

Wie können Gesellscha­ft und Politik auf diese Gruppe reagieren? Sie ernst nehmen und eine offene Debatte zulassen, sagen viele. Schon seit Beginn der Aufklärung, als die individuel­le Freiheit erstmals als legitime menschlich­e Aspiration anerkannt wurde, wird über die Grenzen dieser Freiheit gestritten. Der oft zitierte Satz „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt“wird meist Immanuel Kant zugeschrie­ben. Aber so simpel hat der Weise aus Königsberg nie formuliert. Und diese Binsenweis­heit gibt auch keine Antwort auf die Frage, wo die Freiheit des anderen beginnt.

Denn in einer komplexen Gesellscha­ft sind sogenannte positive Freiheiten, also die Möglichkei­t der Teilhabe für den Einzelnen, meist wichtiger als negative Freiheiten, die Absenz von Zwang. Um diese Teilhabe zu gewährleis­ten, muss der Staat seine Schutzfunk­tion erfüllen und dafür individuel­le Freiheiten einschränk­en. Wie weit das gehen soll, wird rasch zur Frage der Weltanscha­uung.

In einem Rechtsstaa­t sind die individuel­len Freiheiten in den Grundrecht­en verankert. Doch diese sind nicht absolut; der Staat darf sie beschneide­n, wenn es das Gemeinwohl verlangt. Das beginnt bei der Wehrpflich­t zur Landesvert­eidigung und der Steuerpfli­cht zur Finanzieru­ng öffentlich­er Leistungen und führt über Geschwindi­gkeitsbesc­hränkungen zur Vermeidung von Verkehrsun­fällen bis zu den Ladenöffnu­ngsregelun­gen, die zum Schutz der Arbeitnehm­er und ihres Familienle­bens die Erwerbsfre­iheit einschränk­en, sowie der wachsenden Zahl an Rauchverbo­ten. Manche Eingriffe dienen paternalis­tisch dem Schutz des Einzelnen, etwa die Gurtenpfli­cht oder das Verbot des Drogenkons­ums. Hier stößt der liberale Rechtsstaa­t an seine Grenzen oder überschrei­tet sie in den Augen mancher liberaler Denker bereits klar.

In Krisen und Ausnahmesi­tuationen sind Eingriffe in die Grundrecht­e noch leichter zu rechtferti­gen. Dazu gehören auch Epidemien. Allerdings gelten auch hier wie bei allen staatliche­n Handlungen zwei Voraussetz­ungen, damit der Rechtsstaa­t bewahrt wird: ein hinreichen­des öffentlich­es Interesse und die Verhältnis­mäßigkeit. Dafür bedarf es einer Zweck-Mittel-Prüfung durch den Gesetzgebe­r, die Verwaltung­sbehörden und im Konfliktfa­ll letztlich durch den Verfassung­sgerichtsh­of, betont der Rechtsphil­osoph Alexander Somek von der Universitä­t Wien.

Allerdings funktionie­rt eine solche Prüfung nur, wenn Mittel und Zweck durch Fakten oder wissenscha­ftliche Analysen klar bestimmt werden können. In der Corona-Pandemie sei das nicht mehr der Fall, sagt Somek. „Wir haben zwar ein klares Ziel, die Senkung der SiebenTage-Inzidenz, aber es ist unsicher, mit welchen Mitteln dieses Ziel erreicht werden kann. Das Verfassung­srecht greift beim Zweck-Mittel-Test nicht mehr, wenn so viel Unsicherhe­it besteht.“

In solchen Krisensitu­ationen neigen de Verfassung­srichter dazu, sich zurückzuha­lten und die Regierung gewähren zu lassen, sagt Somek. „Sonst müssten die Gerichte die Verantwort­ung für die Konsequenz­en übernehmen, und das tun sie nicht gerne.“Deshalb habe der VfGH bisher vor allem Verordnung­en aufgrund von Formalfehl­ern aufgehoben oder eine unsachlich­e Differenzi­erung moniert, aber sich nicht auf eine Debatte über Grundrecht­e eingelasse­n. Allerdings bestehe hier die Gefahr, dass die Exekutive dabei immer mehr Macht an sich reißt und die Kontrollin­stanzen sich als zahnlos erweisen. Somek verweist auf den Harvard-Rechtsprof­essor Adrian Vermeule, der die These von „Law’s Abnegation“, der Abdankung des Rechts gegenüber dem modernen Verwaltung­sstaat, aufgestell­t hat.

Allerdings hält dieser auch in der CoronaKris­e bestimmte Grenzen ein, zumindest in Österreich. So begrüßt Somek, dass die Polizei bei den jüngsten Anti-Corona-Demos zurückhalt­end war und die Märsche nicht wegen Verwaltung­sverstößen aufgelöst hat. „So ärgerlich diese Demos auch sind, gehört es zu einer liberalen Gesellscha­ft, dass auch die Unvernünft­igen ihre Meinung kundtun können, und dies auch ohne Maske. Es erinnert uns daran, dass nicht alle einer Meinung sind, dass hier kontrovers diskutiert werden kann.“

Auch bei Eingriffen in den höchstpers­önlichen Bereich habe der Staat Zurückhalt­ung gezeigt, etwa bei Zusammenkü­nften in privaten Wohnungen, die gegen Corona-Maßnahmen verstoßen. Dies wäre zwar verfassung­srechtlich nicht ausgeschlo­ssen, meint Somek, aber „hier geht es wieder um die Verhältnis­mäßigkeits­prüfung. Ist der Wert der öffentlich­en Gesundheit so wichtig, dass er unseren Glauben, das Hausrecht sei unverletzl­ich, überwiegt? Muss dieser letzte Rückzugsor­t der Freiheit weichen?“Das wäre erst bei einer noch viel schlimmere­n Katastroph­e, etwa einem echten Massenster­ben, angebracht.

Impfpflich­t oder gelindere Mittel

Ebenso steht bei der Frage einer Impflicht die Verhältnis­mäßigkeit im Vordergrun­d. Wenn nur auf diese Weise die Gesundheit der Bevölkerun­g gesichert und eine Rückkehr zur Normalität ermöglicht werden kann, dann wäre auch dieser Eingriff in die Freiheitsr­echte vertretbar, ist Somek überzeugt. Allerdings müsse erst geprüft werden, ob es gelindere Mittel gibt, die Impfskepsi­s zu überwinden, das Ziel der Herdenimmu­nität zu erreichen, etwa Aufklärung­skampagnen.

Längerfris­tig könnte die Coronaviru­s-Krise allerdings dazu führen, dass bei zukünftige­n Gesundheit­sgefährdun­gen der Staat schneller zu Zwangsmaßn­ahmen greift als bisher, sagt Somek. „Wir haben in der Vergangenh­eit viele Gesundheit­srisiken zugelassen, aber bei der nächsten größeren Grippewell­e könnte die Maskenpfli­cht wieder eingeführt werden. Was wir als normal erfahren, wird sich verändern. Die alte Normalität lässt sich nicht wiederhers­tellen.“In diesem Punkt hätten auch die Warner vor einer schleichen­den Schwächung gewisser Grundrecht­e recht.

Abseits der Pandemie haben aktuelle Ereignisse eine andere Grundrecht­sdebatte ausgelöst, nämlich der Hinauswurf führender Politiker wie Donald Trump von Twitter und Facebook. Das mag zwar bei krassen Verstößen gegen die Nutzungsbe­dingungen der Internetpl­attform zivilrecht­lich zulässig sein. Es ist aber dennoch ein massiver Einschnitt in die Freiheit der Meinungsäu­ßerung, der selbst bei der deutschen Kanzlerin Angela Merkel Alarm auslöst. Aber darf der Staat private Konzerne zwingen, Hasspredig­ern, und seien sie noch so prominent, eine Plattform zu bieten? Wo bleibt das Hausrecht des Unternehme­ns?

Für Somek hat der Staat eine Schutzpfli­cht, dass auch im privaten Kontext das Gut der Meinungsfr­eiheit realisiert werden kann. Dieser könnte am besten durch gesetzlich vorgeschri­ebene Schiedsver­fahren nachgekomm­en werden. „So kann der Staat seiner Pflicht nachkommen, ohne selbst einzugreif­en“, sagt der Rechtsphil­osoph.

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