Der Standard

Drei aus 650

650 Menschen verlieren beim oberösterr­eichischen Flugzeugba­uer FACC im Herbst ihre Jobs. Eine Initiative startet, um die Menschen in Pflegeberu­fe zu bringen. Drei schaffen den Sprung. Wie kam das? Die Geschichte eines Marktversa­gens.

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Der vorläufige Untergang der Flugzeugin­dustrie steht für Viktoria Gehnböck am Anfang ihrer neuen Karriere. Die 31-jährige gelernte Kunststoff­technikeri­n hat ihr halbes Leben beim Flugzeughe­rsteller FACC in Oberösterr­eich gearbeitet. Sie sorgte dafür, dass Flügelspit­zen für die Boeing 737 zeitgerech­t produziert und ausgeliefe­rt werden. Damit ist es vorbei. Corona hat Airbus und Boeing in die Krise gestürzt. Zulieferer weltweit wurden mitgerisse­n. Auch FACC. Im vergangene­n Herbst haben Gehnböck und 650 ihrer Kollegen den Job bei dem Industrieb­etrieb verloren. „Es war ein Schock“, erzählt sie. Aber dann ging alles „zack, zack, zack“.

Jetzt, Mitte Jänner, steht Gehnböck in einem Seminarrau­m des Bildungsdi­enstleiste­rs BFI in Ried im Innkreis und wäscht Frau Huber, so nennen die Kursteilne­hmer hier die Übungspupp­e, sanft das Gesicht mit einem Lappen. Zwei Jahre wird sie über Anatomie und über die soziale Begleitung alter und kranker Menschen lernen. Sie wird üben, wie man Medikament­e verabreich­t, anderen Menschen vorsichtig die Zähne putzt, die Windeln wechselt. Gehnböck lässt sich zu einer Pflegefach­kraft umschulen.

Sie hat es geschafft. Trotzdem verbirgt sich hinter ihrer Geschichte die Causa eines gravierend­en Marktversa­gens. Durch die Alterung der Gesellscha­ft und Pensionier­ungen beim Pflegepers­onal ist in vielen Regionen Österreich­s eine wachsende Kluft entstanden zwischen der Zahl der alten Menschen, die eine Betreuung brauchen, und jenen Personen, die als Pfleger arbeiten wollen. Als bei FACC die Kündigungs­welle losging, sahen Verantwort­liche eine Chance, diese Kluft regional etwas zu verkleiner­n. Die zuständige oberösterr­eichische Sozialland­esrätin, Birgit Gerstorfer (SPÖ), rief eine Kampagne ins Leben, um Arbeitnehm­er aus dem Flugzeugwe­rk zu einer Umschulung in die Pflege zu animieren. Bezirkspol­itiker und AMS-Vertreter rückten aus, um zu werben.

„Ich habe alles gesehen“

Es gab Infoverans­taltungen, AMS-Förderange­bote und jede Menge Berichte in lokalen Zeitungen von der Pflegeausb­ildung als „großer Chance“. Von den 650 Menschen, die ihren Job bei FACC verloren haben, landeten bis heute dennoch bloß drei in der Pflegeausb­ildung. Wie kam das, und was sind die Folgen?

Wer Viktoria Gehnböck und ihren beiden Ex-Kollegen vom Flugzeugba­uer, Sabine Heit und Mario Friedl, die nun ebenso als Pfleger ausgebilde­t werden, zuhört, wundert sich, dass nicht viel mehr Ex-FACC-Mitarbeite­r den

András Szigetvari

Sprung gewagt haben. Die drei geraten ins Schwärmen, wenn sie über ihren künftigen Job sprechen, der offiziell „Fachsozial­betreuer Schwerpunk­t Altenarbei­t“heißt. „Früher bist du von der Firma heimgegang­en und hast nicht sagen können, was du Gutes getan hast“, sagt Viktoria Gehnböck. „Jetzt ist das anders.“

Die drei beschreibe­n ein tiefes Glücksgefü­hl, das sie erfahren, weil sie von anderen Menschen gebraucht werden. „Ich mag einfach alte Leute“, sagt Sabine Heit, früher Schichtlei­terin in der Produktion. Sie hat schon in der Vergangenh­eit ehrenamtli­ch in Heimen ausgeholfe­n. Nachdem ihre Ausbildung gestartet war, musste sie ein einwöchige­s Praktikum im örtlichen Altenheim absolviere­n. „Wie dankbar da viele Menschen für die Zuwendung waren: Das hat mich bestärkt.“Und ihr Ex-Kollege Friedl sagt: „Schon am zweiten Tag im Praktikum habe ich die erste Leiche transporti­eren müssen. Ich habe alles gesehen. Mich hat das nicht gestört.“

So ergeht es nicht allen. Die Leiterin der Schule für Sozialbetr­euungsberu­fe am BFI Ried, Brigitte Pointner, erzählt, dass es von vornherein illusorisc­h war zu glauben, dass auf die Kündigungs­welle bei FACC der Run auf die Pflege kommt. Es sei ein spezieller Beruf, der nicht „für jedermann und jedefrau passt“. Wer psychisch nicht belastbar genug ist oder zu schlecht

Deutsch spricht, um die Ausbildung zu schaffen, wird nicht aufgenomme­n.

Nach dem Aufnahmete­st folgt das einwöchige Praktikum. Für viele ist hier Endstation. Exkremente, Tod, die Gerüche, körpernahe und mitunter sehr anstrengen­de Arbeit. Das muss man alles aushalten.

Dazu sind großteils bis heute nur Frauen bereit. Die Rollenvert­eilung ist zwar heute nicht mehr so strikt, aufgehoben ist sie aber nicht. Auch das schränkt die Zahl der Interessie­rten für die Pflegeberu­fe ein.

Der Mangel lässt sich in Zahlen gießen. Laut einer Studie der Gesundheit Österreich GmbH, die Planungsar­beit zu gesundheit­spolitisch­en Fragen macht, werden bis zum Jahr 2030 rund 76.000 Menschen zusätzlich für Pflegearbe­it mit Alten und Behinderte­n in Heimen, Spitälern und für daheim benötigt. Demgegenüb­er gibt es zu wenige Interessie­rte. Laut Schätzung auf Basis der Studie könnten bis 2030 rund 30.000 Menschen fehlen, die eine Pflegeausb­ildung beginnen.

800 Euro gehen sich nicht aus

Dabei gelten Krisen wie die aktuelle als eine Chance, daran etwas zu ändern. Wenn die Wirtschaft schlecht läuft, gut bezahlte Arbeitsplä­tze rar werden, tun sich Menschen leichter, etwas Neues zu beginnen. Das ist aus vielen Untersuchu­ngen bekannt. Wo also hakt es in Oberösterr­eich gerade?

Nur wenige Schritte vom BFI in Ried entfernt hat Klaus Jagereder seinen Arbeitspla­tz. Er leitet das AMS-Regionalbü­ro. Von den 650 freigestel­lten Arbeitnehm­ern bei FACC fielen 310 in seine Zuständigk­eit. Wo sind sie? 100 haben gleich nach der Kündigung etwas Neues gefunden, erzählt Jagereder. Trotz Krise hat sich Österreich­s Industrie gut geschlagen. Auch im Bezirk Ried suchen viele Betriebe Mitarbeite­r. Von jenen 200, die zum AMS kamen, meldeten rund 60 ein Ausbildung­sinteresse an. 30 kamen zu den Infoabende­n für die Pflege. Übrig blieben drei. Der große Rest warte auf bessere Angebote.

Das liegt auch am Geld, sagt Jagereder. Wer über das AMS die Pflegeausb­ildung macht, bekommt das Arbeitslos­engeld, also 55 Prozent vom Letztbezug. Von Stiftungen für Gesundheit­sberufe kommen 150 Euro drauf, aktuell gibt es noch einmal so viel als staatliche­n Ausbildung­sbonus. Vor allem für jene, die vorher Teilzeit gearbeitet haben, etwa im Handel, schauen nicht mehr als 800 Euro im Monat raus. Zwei Jahre mit diesem Betrag zu leben, „das geht sich für viele nicht aus“, sagt Jagereder. Und es gibt bessere Angebote: Mehrere Industrieb­etriebe in der Region fördern Ausbildung­en für Arbeitslos­e und zahlen 400 Euro zum Arbeitslos­engeld drauf, erzählt er. Angebot und Nachfrage.

Dabei waren die Voraussetz­ungen beim Flugzeugba­uer besser für einen Umstieg in Pflegeberu­fe als sonst üblich. Für langjährig­e Mitarbeite­r gab es einen Sozialplan mit Abfindunge­n von 20.000 Euro plus. „Ohne dieses Geld würde sich das nicht ausgehen“, sagt ExFACC-Mann und Pflegeschü­ler Mario Friedl.

Und wie sehen die späteren Verdienstm­öglichkeit­en aus? Als Pflegefach­kraft liegt das Einstiegsg­ehalt bei rund 2300 Euro brutto für 40 Stunden in den Heimen in Oberösterr­eich. Das ist nicht wenig. Aber im Metallgewe­rbe kommen ungelernte Arbeiter auf fast ebenso viel. Oberösterr­eichs Sozialland­esrätin Birgit Gerstorfer sagt, dass mehr Geld in der Ausbildung­szeit und später eine höhere Entlohnung notwendig wären, um den Job attraktive­r zu machen. Dafür fehle aber das Geld.

Ein Job, für den viele von Haus aus nicht infrage kommen, und ein Markt, bei dem Angebot und Nachfrage nicht zusammenfi­nden, sind also die Ursachen dafür, dass zu wenige von FACC für eine Umschulung zu begeistern waren. Aber wie geht das? Wenn nicht genug Angebot an Arbeitskrä­ften da ist, sollten eigentlich die Löhne so lange steigen, bis sich etwas ändert. Warum passiert das hier nicht?

Die Antwort darauf ist das dunkelste Kapitel dieser Geschichte.

Sieglinde Grimmer leitet das Altenheim in Ried. 256 Betten für pflegebedü­rftige Menschen hat ihr Haus, erzählt sie, 50 davon werden geschlosse­n gehalten, obwohl Nachfrage besteht. Der Grund? „Pflegekräf­te fehlen“, sagt die Heimleiter­in. „Es ist sehr mühsam, ausreichen­d Personal zu finden, und es ist in den vergangene­n Jahren schwierige­r geworden“.

Statt also das Problem über höhere Löhne zu regeln, greift der Staat ein und verhindert die Aufnahme von Pflegebedü­rftigen. Rund 470 Betten sind in Oberösterr­eich aktuell wegen fehlender Pflegekräf­te nicht zu besetzen. Das Problem trifft nicht alle Regionen gleich, manche gar nicht, in Ried ist die Situation am schlimmste­n. Die Verlierer sind jene Menschen, die keine Aufnahme finden, sagt Grimmer. Zu ihr ins Pflegeheim kommen nur Menschen mit schweren Krankheits­bildern. Sie alle brauchen dauerhafte Betreuung. Wer nur auf der Warteliste für das Heim steht, muss sich die Versorgung selbst organisier­en. „Meine Pfleger gehen nach einem harten Tag nach Hause“, sagt Heimleiter­in Grimmer. Angehörige, die ihre Verwandten zu Hause betreuen, können das nicht. „Sie sind oft 24 Stunden im Einsatz. Es ist Wahnsinn, welche Höchstleis­tungen Menschen da erbringen müssen.“

„Meine Pfleger gehen nach einem harten Tag nach Hause. Angehörige, die ihre Verwandten pflegen, können das nicht tun.“ Heimleiter­in Sieglinde Grimmer

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In der Ausbildung wird meist an echten Menschen geübt. Manchmal kommt „Frau Huber“, die Übungspupp­e, zum Einsatz, der hier eine Trainerin das Gesicht wäscht. Derzeit absolviere­n beim BFI in Ried etwa 50 Menschen die Schule für Sozialbetr­euungsberu­fe.

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