Der Standard

Tote Briefkäste­n im Wiener Prater

Die Entwicklun­gen in Südtirol interessie­rten im Kalten Krieg die Geheimdien­ste auf beiden Seiten

- Gerhard Mumelter aus Bozen Geheimdien­ste, Agenten, Spione. Südtirol im Fadenkreuz fremder Mächte Foto: Raetia

Die Zeichnung zeigt eine Telefonzel­le in der Taborstraß­e auf der Höhe des damaligen Wiener Nordwestba­hnhofs. Im Detail wird das Innere der Kabine nachgezeic­hnet sowie eine Abdeckung etwas oberhalb des Telefonapp­arats. Diese Klappe dient dem tschechosl­owakischen Geheimdien­st Státní bezpečnost (StB) als „toter Briefkaste­n“.

Rund ein Dutzend solcher ungelenker Skizzen finden sich im Archiv der tschechosl­owakischen Staatssich­erheit in Prag. Sie stellen geheime Übergabeor­te in Santiago de Chile, in Mailand und vor allem in Wien dar. In der damals in vier Besatzungs­sektoren aufgeteilt­en Hauptstadt (USA, Sowjetunio­n, Frankreich, Großbritan­nien) operiert natürlich auch der StB.

Die toten Briefkäste­n werden im zweiten Bezirk – im damaligen sowjetisch­en Sektor – rund um den Praterster­n eingericht­et: eben in der Taborstraß­e, aber auch im Augarten oder unter einer Parkbank im Wiener Prater. Bedient werden diese Briefkäste­n von rund einem Dutzend

jungen Süd- und Nordtirole­rn, die in den 1950ern jahrelang für den Ostblock Militärspi­onage betreiben.

Der Kopf der Gruppe ist der gebürtige Bozner Hans Morandell, der ab 1955 in Wien lebt und 1959 als Hans Georg Sostero (der Nachname seines Vaters) österreich­ischer Staatsbürg­er wird.

Wie man operativ vorgeht, lässt sich einem Schreiben des StBFührung­soffiziers vom Sommer 1952 entnehmen, in dem er einem der Agenten genaue Vorgaben macht, wie Morandell zum verabredet­en Treffen nach Brünn kommen soll: „Material wird er keines mitnehmen. Das Material legt er in einen Koffer. Diesen Koffer übergibt er am 14. August 1952 in die Gepäckaufb­ewahrung am Nordwestba­hnhof in Wien. Den Gepäcksche­in verschließ­t er in ein Kuvert, und dieses legt er bis spätestens 21.00 Uhr desselben Tages in die ihm bekannte Telefonzel­le. Wenn er bei mir eintrifft, wird das Material bereits hier vorliegen. Es ist ratsamer, den Grenzübert­ritt ohne Material zu vollziehen.“

Es ist nur eine der Geschichte­n, die der Südtiroler Enthüllung­sjournalis­t und Historiker Christoph Franceschi­ni in seinem neuen Buch

nachzeichn­et. Der Autor hat tausende Seiten Akten ausgewerte­t, meist unveröffen­tlichte oder gar unbekannte Dokumente aus bisher verschloss­enen Archiven – vom Archivio Centrale dello Stato in Rom über die National Archives in Washington bis hin zum Archiv des deutschen Bundesnach­richtendie­nstes (BND) in Pullach.

Im Zentrum der packenden Aufarbeitu­ng stehen die Geheimdien­staktivitä­ten rund um die Südtiroler Bombenjahr­e – in welche eine Vielzahl an italienisc­hen Diensten und Spitzeln involviert waren, wo ehemalige Nazis rekrutiert wurden, wo aber auch die amerikanis­chen Nachrichte­ndienste,

der sowjetisch­e KGB oder der israelisch­e Mossad mitmischte­n.

Immer wieder führt dabei auch die Spur nach Österreich. Dabei werden auch Kontakte des Wiener Verlegers Fritz Molden zur amerikanis­chen CIA oder die Einbindung des Innsbrucke­r Publiziste­n Wolfgang Pfaundler in das US-amerikanis­che Stay-behind-Programm genauer beleuchtet. Auch der Plan der italienisc­hen Gladio-Einheiten, die Europabrüc­ke bei Innsbruck kurz vor ihrer Fertigstel­lung zu sprengen, dürfte bisher kaum bekannt sein.

„Vom spionagete­chnischen KleinKlein schafft der Autor immer wieder den Sprung auf die weltpoliti­sche Bühne, dort beispielsw­eise, wo es um die Berichters­tattung über die brisante Lage in Südtirol für US-Präsident John F. Kennedy oder die Diskussion­en im österreich­ischen Staatsappa­rat geht“, schreibt der deutsche Geheimdien­stexperte Erich Schmidt-Eenboom in seinem Vorwort zum Buch.

Christoph Franceschi­ni, „Geheimdien­ste, Agenten, Spione. Südtirol im Fadenkreuz fremder Mächte“. Edition Raetia. 512 Seiten / Euro 24,90

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria