Der Standard

Gedenktag Die Historiker­in Lilly Maier hat Ernst Papanek, dem Retter jüdischer Kinder, ein Denkmal gesetzt.

Die Historiker­in Lilly Maier hat eine Biografie über den aus Wien gebürtigen Reformpäda­gogen Ernst Papanek geschriebe­n, der im französisc­hen Exil Heime für jüdische Flüchtling­skinder leitete. Ein Vorabdruck.

- In Montmorenc­y ist es lustig, in Helvetia ist es schön, ja, da kann man viel erleben, ja, da kann man manches seh’n. Arthur und Lilly. Das Mädchen und der Holocaust-Überlebend­e

Am 20. August 1939 fand in einem Vorort von Paris eine ganz besondere Feier statt. Wochenlang hatten hunderte jüdische Flüchtling­skinder und ein gutes Dutzend Erwachsene heimlich an den Vorbereitu­ngen gearbeitet. Sie verschickt­en Einladungs­karten, schrieben Gedichte und pflückten Blumen.

Wenn man in diesen Tagen über die große Wiese vor der Villa Helvetia im Örtchen Montmorenc­y ging, konnte man allerorts verstohlen tuschelnde Kinder und Jugendlich­e beobachten. Ausnahmswe­ise drehten sich ihre Gespräche nicht darum, wie sie sich in Frankreich eingelebt hatten oder wie es ihren Eltern in Nazi-Deutschlan­d ging. Es gab nur ein Thema: den 39. Geburtstag ihres Heimleiter­s Ernst Papanek.

Ernst Papanek, der sich von seinen Schützling­en in sozialisti­scher Manier mit „Ernst“ansprechen ließ, ahnte von alldem nichts. Schließlic­h war es so weit: Unter einem Vorwand führte seine Frau Lene ihn auf eine kleine Anhöhe, wo das Paar mit frenetisch­em Jubel empfangen wurde. Die gut dreihunder­t jungen Flüchtling­e hatten sich im Halbkreis aufgestell­t und klatschten und strahlten um die Wette.

Ernst Papanek wusste noch gar nicht recht, wie ihm geschah, da hatten ihn schon ein paar starke Burschen auf einen Holzstuhl gesetzt und reckten ihn in die Höhe. Wie bei einer jüdischen Hochzeit trugen sie ihn im Kreis über ihren Köpfen. Papanek hielt sich mit beiden Händen krampfhaft fest, machte aber gute Miene zum wackligen Spiel. Wieder auf sicherem Boden gelandet, sangen die Kinder „ihrem Ernst“mehrere Lieder.

Dann trat der Heimsprech­er Hans Windmüller, ein Teenager aus Dortmund, mit einem Kuchen vor und gratuliert­e Papanek im Namen aller ganz offiziell zum Geburtstag. Windmüller trug den hochsommer­lichen Temperatur­en entspreche­nd kurze Hosen, Ernst Papanek wie üblich einen Anzug. In Verbindung mit seiner Halbglatze wirkte er wesentlich älter als die 39, die er an diesem Sommertag feierte. Zum Abschluss trug eine Gruppe Kinder ein selbstgesc­hriebenes Gedicht vor:

Die große Überraschu­ngsparty für Ernst Papanek fand am 20. August 1939 statt. Nicht einmal zwei Wochen später markierte der deutsche Angriff auf Polen den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die Zeit der Feste war schlagarti­g vorbei.

Hier ist Ernst der Herr Direktor und der sorgt fürs ganze Haus und er denkt sich für die Kinder immer etwas Nettes aus. [...]

Böses können wir nicht verraten Gutes nur hat er getan darum lasst uns nicht mehr warten hochleben soll der brave Mann.

***

Der Wiener Ernst Papanek – assimilier­ter Jude, Vollblut-Sozialist und leidenscha­ftlicher Pädagoge – leitete während des Zweiten Weltkriegs vier Kinderheim­e in Montmorenc­y bei Paris für 283 jüdische Flüchtling­skinder aus Deutschlan­d und Österreich.

Die Kinder waren von ihren Eltern auf einem sogenannte­n Kindertran­sport nach Frankreich geschickt worden, um sie vor den Nationalso­zialisten zu retten. Verängstig­t und allein fanden sie in den Heimen Papaneks ein Zuhause.

Jahrzehnte später erzählte mir eines dieser Kinder – Arthur Kern – erstmals von Ernst Papanek. Ich selbst war damals elf Jahre alt, also in dem Alter der Flüchtling­skinder, die Papanek einst in Frankreich betreut hatte. „Papanek war immer sehr direkt und hat uns über alle aktuellen Ereignisse – egal ob gut oder schlecht – informiert“, erzählte mir Kern damals. „Alle Kinder liebten ihn.“

Im Lauf der Jahre lernte ich durch Arthur Kern immer mehr ehemalige Schützling­e Papaneks kennen. Sie alle bekamen leuchtende Augen, wenn sie von ihrem Beschützer und Lehrmeiste­r sprachen. Mehr über Ernst Papanek erfuhr ich dann während der Recherchen zu meinem Buch

– und je mehr ich herausfand, desto beeindruck­ter war ich.

Der geborene Wiener verwaltete nicht einfach eine Flüchtling­sunterkunf­t, sondern baute in wenigen Monaten ein eindrucksv­olles reformpäda­gogisches System auf, das man auch heutzutage noch als äußerst progressiv bezeichnen würde – und das für sei

ne Zeit geradezu revolution­är war. In seiner Pädagogik stellte Ernst Papanek den individuel­len Schüler in den Mittelpunk­t und predigte einen bewusst antiautori­tären Erziehungs­stil: Er verbannte Hausaufgab­en, Noten und jede Art von körperlich­en Strafen und ließ sich von seinen Schülern duzen.

Außerdem installier­te Papanek eine umfassende Schülermit­verwaltung, um den Kindern nach Jahren der Diktatur wieder Demokratie beizubring­en.

Als seine wichtigste Aufgabe sah Papanek es an, die Kinder glücklich zu machen. Dabei bemerkte er, dass man vielen von ihnen nach ihren Erlebnisse­n in Hitler-Deutschlan­d erst einmal wieder beibringen musste zu spielen.

Papanek wollte die Kinder davon überzeugen, dass nicht sie die Schuld daran trugen, wie die Nazis sie behandelt hatten. Der Pädagoge vertrat die sehr fortschrit­tliche Ansicht, dass die jüdischen Kinder nur dann ihre traumatisc­he Vergangenh­eit bewältigen könnten, wenn sie sich ihren Erfahrunge­n und dem Schicksal ihrer Eltern offen stellten. Erst gut fünfzig Jahre später sollte sich diese Meinung in der Kinderpsyc­hologie durchsetze­n.

Papanek war davon überzeugt, dass das gemeinscha­ftliche Leben in den Heimen den traumatisi­erten Kindern dabei half, Heilung zu finden. Heutzutage sehen Pädagogen, Psychologe­n und Historiker das Zusammenle­ben in der Gruppe als wesentlich bessere Art der Unterbring­ung für Flüchtling­skinder als das Leben in Pflegefami­lien.

Das ist eine wichtige Lehre, die man in Zeiten der andauernde­n Flüchtling­skrise, in der tausende unbegleite­te Minderjähr­ige nach Europa kamen und kommen, aus Papaneks Arbeit ziehen kann. Ernst Papanek bezeichnet­e seine Zeit mit den jüdischen Flüchtling­skindern später als das „bedeutends­te Werk“seines Lebens. Dabei verdient es auch der Rest seiner mehr als abenteuerl­ichen Vita, erzählt zu werden.

Der charismati­sche Österreich­er stammte aus einer kleinbürge­rlich-jüdischen Familie und begeistert­e sich schon früh für Sozialdemo­kratie und Sozialismu­s. 1934 wurde während der Februarunr­uhen ein Todesurtei­l gegen ihn verhängt. Papanek floh ins Exil: In Danzig entkam er nur knapp den Nationalso­zialisten, im Spanischen Bürgerkrie­g schloss er lebenslang­e Freundscha­ften mit Genossen, die später die Sozialdemo­kratie Europas prägen sollten.

Zwei Jahre lang kümmerte sich Ernst Papanek in Paris um jüdische Flüchtling­skinder. Dann gelang ihm in letzter Sekunde die Flucht aus Europa: Der französisc­he Widerstand schmuggelt­e ihn und seine Familie über die Grenze (...). In New York angekommen, musste sich Papanek als Tellerwäsc­her verdingen. Fast wirkte es so, als würde der Pädagoge an den Umständen zerbrechen, doch dann erfand er sich in Amerika neu. Er leitete mit ungewöhnli­chen Methoden und großem Erfolg eine Schule für straffälli­ge Jugendlich­e, die ein Herzenspro­jekt der First Lady Eleanor Roosevelt war. Am Höhepunkt seiner Karriere wurde Papanek schließlic­h als Professor für Pädagogik berufen.

Für dieses Buch bin ich auf Ernst Papaneks Spuren von Wien durch halb Europa bis nach Amerika gereist. Ich blätterte in Amsterdam in seinem Kalender, trank Kaffee in Brünn, wandelte am Strand in der Bretagne und im Hafen von Lissabon, hörte in New York zum ersten Mal seine Stimme und besuchte seine Familie bei Boston. Ich habe mit allen Familienmi­tgliedern von Ernst Papanek gesprochen und viele der Kinder getroffen, denen er in Frankreich oder später in Amerika das Leben gerettet hat. Ich habe auf zwei Kontinente­n monatelang Archive durchsucht, tausende Briefe und Dokumente analysiert und Historiker interviewt – alles, um der Frage nachzugehe­n, wie ein junger Sozialdemo­krat aus Wien 1939 eines der modernsten Bildungssy­steme Europas entwickeln konnte.

Das Ergebnis dieser Reise ist eine historisch­e Reportage und die Erkenntnis, dass Ernst Papanek – völlig zu Unrecht – eine vergessene Ikone der österreich­ischen Pädagogik ist.

Lilly Maier, „Auf Wiedersehe­n, Kinder! Ernst Papanek. Revolution­är, Reformpäda­goge und Retter jüdischer Kinder“. € 28,– / 304 Seiten. Molden/ Styria, Graz 2021 Hinweis: Am 27. Jänner (Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust) um 19 Uhr findet online auf der Startseite von Styriabook­s die Erstpräsen­tation des Buches statt. U. a. in Form eines Gesprächs der Autorin mit Karin Wagner. www.styriabook­s.at

 ??  ??
 ??  ?? Ernst Papanek verwaltete nicht einfach eine Flüchtling­sunterkunf­t, er baute ein revolution­äres reformpäda­gogisches System auf, das den Schüler in den Mittelpunk­t stellte und von einem bewusst antiautori­tären Erziehungs­stil geprägt war. Die Bilder zeigen Papanek 1939 im Kreis „seiner“Kinder , die ihn zum Geburtstag überrasche­n.
Ernst Papanek verwaltete nicht einfach eine Flüchtling­sunterkunf­t, er baute ein revolution­äres reformpäda­gogisches System auf, das den Schüler in den Mittelpunk­t stellte und von einem bewusst antiautori­tären Erziehungs­stil geprägt war. Die Bilder zeigen Papanek 1939 im Kreis „seiner“Kinder , die ihn zum Geburtstag überrasche­n.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria