Der Standard

ZITAT DER WOCHE

Zwei Meter Abstand, FFP2-Masken in Geschäften und Öffis: Ab Montag gelten unkomplizi­erte neue Verschärfu­ngen, die wirtschaft­lich vergleichs­weise wenig schaden. Hätte die Regierung da nicht schon früher draufkomme­n können?

- Gerald John

„Denn es gibt immer Licht, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein.“

Aus dem Gedicht der US-Poetin Amanda Gorman, das sie bei der Inaugurati­on des neuen US-Präsidente­n Joe Biden vortrug

Der blassblaue Stoff vor dem Gesicht macht einen zum Sonderling. Niemand sonst trägt hier, in einem Tankstelle­nshop im Oberen Murtal, Mund-NasenSchut­z. Der Mann mit der Gösser-Dose an der Schank lässt die Maske ebenso am Hals baumeln wie die Verkäuferi­n, die zum Kaffeeserv­ieren bereitwill­ig hinter ihrer Plexiglass­cheibe hervorkomm­t. Der Gast am Stehtisch, der einen Verlängert­en bestellt, hat gleich gar keine dabei.

Die steirische Straßensta­tion ist nicht nur in Kilometern gerechnet weit vom Regierungs­viertel in Wien entfernt. Während mancherort­s selbst die grundlegen­den Anti-Corona-Regeln noch nicht – oder nicht mehr – beherzigt werden, verhängt die türkis-grüne Koalition die nächsten Verschärfu­ngen. Ab Montag sind zwei statt einem Meter Abstand zu halten sowie in Handel und Öffis die wirksamere­n FFP2-Masken zu tragen – vergleichs­weise unkomplizi­erte Maßnahmen, die weniger wirtschaft­lichen Schaden anrichten als Geschäftss­chließunge­n. Da drängt sich die Frage auf: Warum ist die Regierung da nicht schon früher, als im Herbst die Infektions­zahlen anschwolle­n, draufgekom­men?

Darüber rätselt auch mancher Experte. „Bei jeder neuen Verordnung habe ich erwartet, dass die Abstandsre­gel ausgeweite­t wird“, sagt Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS). Schließlic­h ist es seit Monaten wissenscha­ftlicher Konsens, dass infektiöse Aerosole unter ungünstige­n Bedingunge­n – enge Räume, lautes Sprechen – deutlich weiter fliegen können. Tradiertes Scheinwiss­en, das nie überprüft wurde, sieht der Forscher hinter der Ein-Meter-Regel: Der beschworen­e Babyelefan­t reiche in vielen Fällen nicht aus, zumal sich die Leute ohnehin einen Toleranzsp­ielraum gönnten.

Anderswo ist diese Botschaft früher gesickert. Viele EU-Staaten setzen seit der ersten Welle auf einen Zwei-Meter-Abstand, auch in den deutschen Bundesländ­ern liegen die Limits schon seit dem Frühling 2020 fast durchwegs über dem heimischen Maß. Die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) hingegen empfiehlt nach wie vor einen Meter Distanz.

Je mehr Abstand, desto besser

„Österreich zählt zu den Ländern, die bisher den geringsten Abstand vorgeschri­eben haben“, bestätigt Michael Wagner, Vize-Leiter des Zentrums für Mikrobiolo­gie und Umweltsyst­emwissensc­haft an der Uni Wien: „Ich hätte es gut gefunden, wenn die Regierung die Distanzreg­el schon früher ausgeweite­t hätte. Je mehr Abstand, desto besser aus virologisc­her Sicht, wobei die zwei Meter allein noch nicht die Lösung sind.“Wenn sich in einem ungelüftet­en Raum viel Aerosole über die Atemluft ansammeln, könne selbst das neue Limit zu gering sein: „Am besten man stellt sich vor, mit einem Raucher im Raum zu sitzen. Würde einem der Qualm in die Nase steigen, ist man auch vor den Viren nicht sicher.“

Für die neue FFP2-Masken-Pflicht gelte dasselbe: „Natürlich wäre es sinnvoll gewesen, wäre dieser hocheffekt­ive Schutz schon früher vorgeschri­eben worden.“Am eigenen Institut, erzählt Wagner, würden die bereitgest­ellten Masken seit Monaten ausnahmslo­s getragen – mit Erfolg. Zwar habe es einzelne Corona-Fälle gegeben, doch die seien allesamt von außen hereingetr­agen worden: „Ansteckung gab es am Institut keine einzige.“

Czypionka urteilt im Fall der Masken milder als beim Abstand. Natürlich sei das FFP2Modell überlegen, da dieses den Träger stark vor Ansteckung schützt. Doch schon herkömmlic­he Masken seien, korrekt angewandt, sehr wirksam, weil sie zumindest den Mitmensche­n einen guten Schutz bieten.

FFP2-Masken seien nun einmal teuer, gibt er zu bedenken – und die Politik tue sich schwer, mehrfachen Gebrauch zu empfehlen, wenn dieser eigentlich nicht vorgesehen ist. Außerdem habe die WHO mit ihrer lange demonstrie­rten Maskenskep­sis auch da einen fragwürdig­en Weg vorgegeben: „Das Kalkül war offenbar: Wenn eine Maßnahme viele Mitgliedss­taaten vor Beschaffun­gsprobleme stellt, empfehlen wir das lieber nicht.“

Regierung hat nie gefragt

Spielt das auch in Österreich eine Rolle? Hätten Produzente­n die Nachfrage nach FFP2Masken im Herbst im gleichen Ausmaß befriedige­n können wie heute? Während der Anbieter Hygiene Austria ausweichen­d reagiert („diese hypothetis­che Frage ist heute schwer zu beantworte­n“), antwortet Dominik Holzner, Geschäftsf­ührer des Mitbewerbe­rs Aventrium Health Care, mit einem Ja: Man hätte im Herbst die Produktion bereits genauso hochfahren können, wie es nun passiere.

Ähnliches sagt Harald Fischl, Leiter der Firma Swano-Tex, die gerade auf FFP2-Produktion umstellt. Das Problem sei ein anderes: „Hätte uns die Regierung mit ein paar Wochen Vorlauf informiert, täten wir uns leichter. So aber müssen wir fast betteln gehen, um in der

Eile die neuen Maschinen aufzutreib­en.“Alle drei Anbieter halten fest: Nie habe sich die Regierung erkundigt, wie viele FFP2-Masken wie rasch produziert werden könnten.

Gesundheit­sminister Rudolf Anschober (Grüne) erklärt das Timing der Regierung mit den jüngsten Kapriolen der Pandemie. „Die Virusmutat­ion B.1.1.7 verbreitet sich dynamisch in Europa und dem Rest der Welt. In Irland und Großbritan­nien kam es bereits zu einer Vervielfac­hung der Infektions­zahlen“, argumentie­rt der Ressortche­f: Die FFP2-Maskenpfli­cht sei ebenso wie der höhere Mindestabs­tand „zielorient­iert“auf die Risiken der neuen Variante – ein stark erhöhtes Ansteckung­srisiko – zugeschnit­ten.

Unterschät­zte Gefahr

Der Experte Wagner bewertet die Sachlage anders. Dass die Regierung „diese wirkungsvo­llen Maßnahmen“nicht früher ergriffen hat, erklärt er sich mit einer Unterschät­zung der Gefahr, die sich ab dem Sommer breitgemac­ht habe: „Damals waren die Infektions­zahlen trügerisch niedrig. Manche Experten, Politiker und Teile der Gesellscha­ft wollten Warnungen aus der Wissenscha­ft nicht hören, dass die zweite Welle der Pandemie im Herbst und Winter kommen werde.“

Für die nahe Zukunft hat er deshalb eine dringende Empfehlung. Wenn die Zahlen durch den Lockdown auf ein verträglic­hes Maß gedrückt sind, dürfe keinesfall­s gleich wieder zu schnell gelockert werden. Entscheide­nd sei zudem, durch massives Testen, Contact-Tracing und Isolieren die Kontrolle zurückzuge­winnen: „Sonst wird das ein ewiges Auf- und Zusperren.“

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