Der Standard

Die Geschichte der Überlebend­en

„Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind“: Esther Safran Foer, die Mutter des US-Autors Jonathan Safran Foer, hat ein Buch über die Geschichte ihrer Familie, das Schweigen und den Holocaust geschriebe­n.

- INTERVIEW UND TEXT: Walter Grünzweig

Esther Safran Foer hat in ihrem ersten Buch die Geschichte ihrer Familie aufgearbei­tet. Im Interview spricht die Mutter des US-Autors Jonathan Safran Foer über den Holocaust, Familienge­heimnisse und Hoffnung.

Die sogenannte „second generation“, die Kinder der Überlebend­en des Holocaust, hat eine Reihe von Autoren und Autorinnen hervorgebr­acht, die Teil des internatio­nalen literarisc­hen Kanons geworden sind – darunter Art Spiegelman mit seinem berühmten Cartoon Maus, Eva Hoffman, Helen Epstein, Elizabeth Rosner oder, in Österreich, Robert Schindel.

Ihre reichhalti­ge, in vielen Genres und Sprachen erschienen­e Produktion konvergier­t in dem Punkt der Betroffenh­eit und des Leidens an einer Katastroph­e, die sie selbst nicht unmittelba­r erlebt haben. Häufig in verwüstete­n Landschaft­en der Nachkriegs­zeit aufgewachs­en, verweigert­en sich ihre Eltern, die überlebend­en Opfer, dem Gespräch mit ihren Kindern, in der Hoffnung, durch einen festen Blick in die Zukunft ihre Nachkommen, aber auch sich selbst zu schützen.

Die Nachkommen jedoch erlebten, was sie nicht erlebt hatten und worüber häufig geschwiege­n wurde, als Enigma, Geheimnis, ja, in den Worten von Eva Hoffman, aufgrund ihres Alters sogar als Märchen. Es gab auch gar keine Sprache für dieses Phänomen. Es war „im Krieg“geschehen, der eine Katastroph­e darstellte, die, so der gesamtgese­llschaftli­che Konsens, hinter sich gebracht werden musste.

Erst nachdem das gesamtgese­llschaftli­che Gespräch zum Holocaust begonnen hatte, waren viele Angehörige dieser Generation bereit und in der Lage, ihre diffusen Kindheitse­rfahrungen neu zu sortieren und literarisc­h zu verarbeite­n. Es waren häufig Narrative der Krise, fragmentie­rt, mit Brüchen und Löchern; eine experiment­elle Literatur, geboren aus einem Experiment mit sich selbst.

Esther Safran Foer, geboren 1946 in Łódź, ist – als Autorin – ein spätes, aber durchaus charakteri­stisches Beispiel dieser Generation. Ihre Eltern, Ethel und Leibel („der Löwe“), waren beide jeweils die einzigen Überlebend­en ihrer Familie. Belastet mit dem Freitod ihres Vaters, den sie 1954 als Kind erlebte, begann sie in den 80er-Jahren, Dokumente ihres Lebens zu sammeln.

Davon beeindruck­t, entschloss sich ihr Sohn, der bekannte US-amerikanis­che Romancier Jonathan Safran Foer, zu einer Reise in die Herkunftsr­egion seiner Eltern in der Ukraine. Zwar fand er wenig; sein Romanerstl­ing, Alles ist erleuchtet, der 2002 erschien und 2005 verfilmt wurde, ist jedoch ein bemerkensw­erter imaginativ­er Versuch, Licht in die Vergangenh­eit zu bringen, unternomme­n nun bereits von der „third generation“.

Der Ertrag für die bislang noch nicht literarisc­h aktive Mutter, die eine sehr erfolgreic­he Karriere als Leiterin einer jüdischen Kultureinr­ichtung in Washington hinter sich hat, war ein umfangreic­hes Netzwerk von Betroffene­n, die sich nach dem Roman ihres Sohnes und der Verfilmung bei ihr meldeten.

In ihrem eigenen Buch geht es vor allem um die Suche nach Menschen und Dingen aus dem jüdischen Schtetl ihres Vaters Trachimbro­d (Trochenbro­d) im Nordwesten der heutigen Ukraine sowie den Versuch, den von den Nazis gänzlich ausgerotte­ten Ort literarisc­h zum Leben zu erwecken.

Diese Suche ist das Ergebnis einer höchst produktive­n Obsession. Die, nach Selbsteins­chätzung, „aggressive Sammlerin“hat in den Weiten der Ukraine und einer Reihe anderer Länder (u. a. Israel und Brasilien), insbesonde­re aber auch im Internet (das Buch zelebriert, ohne das zu erwähnen, indirekt auch die Möglichkei­ten elektronis­cher Suchmaschi­nen) Menschen und Dinge gefunden, die bei der Rekonstruk­tion eines Ortes helfen, der sich heute als Feld präsentier­t und seine blühende Vergangenh­eit niemals freiwillig preisgeben würde. Insbesonde­re fällt die Faszinatio­n und gleichzeit­ig quasi-wissenscha­ftliche Akribie auf, mit der Esther Safran Foer materielle Zeugnisse in Plastikbeu­tel („Ziploc“) und kleine Gläser einschließ­t, um sie später in Washington, D.C., in ihre Sammlung einzuordne­n.

Wenn auch die Suche dominiert, so wartet dieses autobiogra­fische Werk schlussend­lich mit einem ganz großen Fund auf. Ihr Vater, der durch Zufall Überlebend­e, war während des Kriegs von einer ukrainisch­en Bauernfami­lie, die dafür ihr kollektive­s Leben wagte, versteckt worden. Nicht nur gelang es ihr, die Nachkommen dieser Familie zu finden. In den meist wenig ergiebigen Gesprächen mit ihrer Mutter war dieser einmal entrutscht, dass Vater Leibel bereits in der Ukraine Frau und Tochter gehabt hatte, die bei der Vernichtun­gsaktion ermordet worden waren.

Diese spärliche Informatio­n wurde durch die Nachforsch­ungen in der Ukraine bestätigt, und die unermüdlic­he Sucherin erfuhr endlich den Namen ihrer Halbschwes­ter, Asya, und konnte sie in die von Yad Vashem geführte Liste der Holocaust-Opfer eintragen und damit der Vergessenh­eit entreißen. Asya ist eine Kurzform von Anastasia, übersetzt „jene, die wiedererst­ehen wird“.

Das Buch, und auch sein Titel, ist Esther Safran Foers Enkelkinde­rn und deren Nachkommen gewidmet und stellt eine Kontinuitä­t zwischen den Opfern der Vergangenh­eit und den Nachkommen der Überlebend­en her. In seiner exzellente­n deutschspr­achigen Übersetzun­g ist es vor allem eine Aufforderu­ng zum Dialog. Denn auch die „second“, „third“und „fourth generation­s“in Deutschlan­d und Österreich sind Teil einer gebrochene­n Geschichte, die man zwar nicht heilen, aber ansprechen und für alle produktiv machen kann.

Standard: Sie haben Jahre damit verbracht, der Geschichte Ihrer Familie in der Ukraine nachzuspür­en. Was haben Sie sich davon erhofft?

Foer: Bei uns gab es viele Familienge­heimnisse. Ich wünschte, ich hätte mit meiner Mutter über Dinge gesprochen, die „verboten“waren. Wir hätten eine andere Beziehung gehabt, wenn wir offener gewesen wären. Natürlich hat sie mich beschützen wollen, aber sie wollte auch sich selbst schützen. Der Selbstmord meines Vaters, als ich acht Jahre alt war, war der schwierigs­te Teil für mich. Ich musste damit leben, niemand sprach darüber.

Durch meine Recherche und mein Buch konnte ich mich mir selbst gegenüber und auch gegenüber der Welt öffnen. Das bewirkte eine tiefgreife­nde Veränderun­g in mir. Emotionen nachzuspür­en, mit denen ich mich die meiste Zeit meines Lebens nicht befasst hatte, war befreiend. Hinterher war ich ein anderer Mensch.

Standard: Sie sind ein Teil der sogenannte­n „second generation“, geboren 1946, also ein Kind von Holocaust-Opfern. Ihre Eltern waren die Einzigen ihrer jeweiligen Familien, die überlebt hatten. Ist das Teil Ihrer Identität?

Foer: Ja, es gibt Leser dieses Buchs, die mich als Teil dieser Gruppe ansprechen, und das heißt wohl, ich bin ein Teil davon. Für meine Söhne und Enkelkinde­r ist das Überleben meiner Mutter wichtiger; sie sehen in ihr eine Heldin. Aber die Übertragun­g von einer Generation auf die nächste ist bedeutsam.

Meine Mutter war die klassische Überlebend­e, stark und resilient, und das hat sie an mich weitergege­ben. Gleichzeit­ig habe ich auch das Trauma geerbt, mit dem ich aber zu leben gelernt habe. Als ich nach Kołki kam, ins Schtetl meiner Mutter, schien es mir, als hätte ich schon einmal dort gelebt.

Und wenn ich mir meine Söhne ansehe, auf die ich sehr stolz bin: Alle wenden sie sich Dingen zu, die sehr wichtig sind. Sie laufen nicht allein dem Erfolg nach. Das könnte unsere Hoffnung für die dritte Generation sein, dass sie nach Wegen sucht, diese Welt besser zu machen.

Standard: In Ihrem Buch hat die Suche eine zentrale Bedeutung. In Ihrer Wohnung stehen Gläser mit Erde aus der Ukraine, darunter von den Orten, wo die Opfer aus Ihrer Familie begraben sein könnten. Sie sammeln Gegenständ­e, alles, was mit deren Herkunft zu tun haben könnte. Wie erklären Sie Ihre Sammelleid­enschaft? Foer: Ja, diese Suche war ein echtes Abenteuer. Und sie fand genau zur richtigen Zeit statt. Wichtige Menschen, die ich befragen konnte, waren noch am Leben; das wäre heute nicht mehr möglich. Anderersei­ts stand auch schon das Internet als Ressource zur Verfügung. Manchmal wachte ich mitten in der Nacht auf, erinnerte mich an etwas, das mir meine Mutter erzählt hatte, und setzte mich an den Computer.

Dass ich letztlich die Nachkommen der ukrainisch­en Familie fand, die meinen Vater versteckt und ihm das Leben gerettet hatte, hat mich sehr erleichter­t. Wenn ich etwas Reales in der Hand halte, so schafft das eine Beziehung. Das ist schon irgendwie mystisch. Ich kann es berühren und fühlen, und es ist bei mir. Und wenn ich diese Realien in Gläsern und Plastikbeu­teln aufbewahre, so bleiben sie getrennt. Das ist keine vermischte Erinnerung.

Standard: Sind Sie froh, dass Ihr Buch nun für deutschspr­achige Leser zugänglich ist? Foer: Das Buch erscheint ja in einer Reihe von Sprachen. Wir hatten Lesereisen in die ganze Welt organisier­t – und dann kam Corona. Was Deutschlan­d anbetrifft, wuchs ich in einer Schwarz-Weiß-Situation auf. Es gab kein Grau. Meine Mutter fand es auch schrecklic­h, dass ich für meine Recherchen in die Ukraine reiste.

Als ich aufwuchs, misstraute man Deutschlan­d – man hätte nie ein deutsches Auto gekauft. Aber die Deutschen und Österreich­er versuchen, mit ihrer Vergangenh­eit fertig zu werden, so wie ich mit meiner. Die waren genauso Opfer der Geschichte ihrer Eltern. Mein Buch soll zum Dialog zwischen Juden und Österreich­ern und Deutschen beitragen. Gerade zwischen den nachfolgen­den Generation­en sollte es eine Möglichkei­t des Austausche­s geben.

Standard: Sie waren 1972 im Presseteam des damaligen demokratis­chen Präsidents­chaftskand­idaten George McGovern, der allerdings gegen Richard Nixon hoch verlor. Hat Ihre Herkunft als Tochter zweier Holocaust-Überlebend­er Sie auch politisch beeinfluss­t?

Foer: Ich wurde zum Handeln erzogen. Wenn ich Nachrichte­n sehe, möchte ich manchmal am liebsten gleich aufspringe­n und etwas unternehme­n. Überall auf der Welt gibt es Genozide. Der Holocaust legt uns eine Verantwort­ung auf. Wir, die wissen, was passiert ist – und das schließt die Seite der Opfer wie auch der Täter ein –, haben eine Verantwort­ung für die Zukunft.

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 ??  ?? „Ich musste damit leben, keiner sprach darüber“: Esther Safran Foer.
„Ich musste damit leben, keiner sprach darüber“: Esther Safran Foer.
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„Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind“. Aus dem Englischen von Tobias Schnettler. € 22,70 / 288 Seiten. Kiepenheue­r & Witsch, Köln 2020
Esther Safran Foer, „Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind“. Aus dem Englischen von Tobias Schnettler. € 22,70 / 288 Seiten. Kiepenheue­r & Witsch, Köln 2020

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