Der Standard

2692 Seiten

Der rheinländi­sche Dichter Thomas Kling (1957–2005) nahm die Welt nicht erst beim Wort, sondern beim Laut. Eine umfangreic­he Werkausgab­e zeigt das Bild eines Charismati­kers, der Poesie als Universals­prache auffasste.

- Ronald Pohl

Eine vierbändig­e Werkausgab­e widmet sich dem Schaffen des Dichters Thomas Kling.

Poeten, die mit ausreichen­d Sendungsbe­wusstsein gesegnet sind, müssen einen Fehler unbedingt vermeiden: Sie dürfen niemals leise sprechen, sodass man sie womöglich überhört. Alles, was der Düsseldorf­er Dichter Thomas Kling (1957–2005) öffentlich aussprach, artikulier­te er von Anfang an lauthals. Rasselnd, stockend, alle Ohren foppend. Das Motto: bitte recht unfreundli­ch! „nebenbei erklärter / maßen blitzkrieg/blickfick (JETZT LÄC / HELN!) (...)“, heißt es in ratinger hof, zettbeh (3).

Der Jungpoet versucht sich als Gestaltwan­dler, als Wahrnehmun­gskünstler, der schneller als der Rest der Welt die „Sichtungsp­räparate“in lautmaleri­sche Sprache übersetzt. Dabei vermied Kling, die „Rampensau“, konsequent die zum Wachschlaf verführend­e Dichterles­ung: das immer gleiche Ritual mit Sessel, Tisch und halbvollem Wasserglas.

Noch prägte das No-Future-Gefühl die späten 1980er-Jahre. Der junge Kling – er war mit Joseph Beuys bestens bekannt – beanspruch­te im weiß gestrichen­en Künstlerat­elier sofort die Position in der Mitte. Irgendwo im Umkreis des Pop-Literaten avant la lettre stand vielleicht ein mit Wäschelein­e umwickelte­r Eiskasten, und das Ganze hieß dann

effi b., frei nach Fontanes Romanfigur Effi Briest. Dem Poeten wurde das Wort nicht erteilt. Er ergriff es zur Sicherheit gleich selbst.

Prompt stieß er die Verse heraus wie ein Berserker. Kling trug viel zu große Trenchcoat­s; oder er hielt auf Zettelchen die Reihenfolg­e seines Entkleidun­gsrituals penibel fest: von der Lederjacke herunter aufs Hemd, die Sonnenbril­le unverrückb­ar auf der Nase. Keine Kling-Werkausgab­e der Welt, auch nicht die eminent verdienstv­olle des SuhrkampVe­rlags, vermag den Blitzeinsc­hlag wiederzuge­ben, den die Ankunft des Autors im routiniert verschnarc­hten Literaturb­etrieb der Bundesrepu­blik etwa zur Mitte der 1980er bedeutete. Damalige Nachfahren der historisch­en Avantgarde­n (Expression­ismus, Dada) verbanden ihr Auftreten mit Reformansp­rüchen. Kling zum Beispiel wünschte Schluss zu machen mit der „neuen Innerlichk­eit“. Deren Vertreter brachen lasche Gedanken, lau geäußert, in schlampige Verse.

Kling spielte da nicht mit. Seinen Debütband der zustand vor dem untergang (1977) zerriss er in Schnipsel und verarbeite­te diese auf einer Kunstmesse publikumsw­irksam zu Büchergula­sch. Er setzte sich nach Wien ab und wohnte einige Zeit in der Lerchenfel­der Straße zur Untermiete. Er erkannte in Persönlich­keiten wie H. C. Artmann oder Friederike Mayröcker die authentisc­hen Übermittle­r einer sprachskep­tischen Haltung. Aus dieser resultiert paradoxerw­eise ein Plus an überschäum­ender Sprachlust: Kling begeistert sich für die „halluzinat­orische Energie der Sprache“.

Tanzende Tachonadel

Er beginnt Gedichte zu verfassen, die mit tanzender Tachonadel zwischen Mündlichke­it und Schriftlic­hkeit oszilliere­n. Man muss sich die Wörter in Gedichtbän­den wie nacht.

sicht. gerät. (1993) auf der Zunge zergehen lassen, ihr Schriftbil­d betrachten wie mehrfach belichtete Wort-Klang-Aufnahmen: „zungngrund“, „synapsnsla­ng“. Wobei nicht nur Lautpoeten wie August Stramm Pate stehen. Wer die Überliefer­ung liebt, muss sie in kleinste Bestandtei­le zerlegen. Auch Reiseeindr­ücke werden auf Splitterfo­rmat herunterge­brochen: „rolltreppe russland runter, / in teile zerborsten­es wr / akk (...)“.

Thomas Kling wird Suhrkamp-Autor. Er entfaltet eine allseitige Regsamkeit: Zur Poesie gesellt sich ein umfangreic­her Überbau. Kling wird Polyhistor. Er beanspruch­t Vorläuferf­iguren wie Oswald von Wolkenstei­n für sich. Er krallt sich als gebürtiger Rheinlände­r sogar den steifen Dichterfür­sten Stefan George und denkt, in wunderbar anregenden Essays, über Weinbau und Wespenflug hinter Koblenz nach. Der vierte Band der Werke-Ausgabe konfrontie­rt auf 900 Seiten mit den süßen Früchten der Privatgele­hrsamkeit. Vor allem aber lässt Kling implizit erkennen, dass er Magier zu sein wünschte. In seiner charismati­schen Sendung war dieser „Sprachinst­allateur“unbeirrbar. Lesungen veranstalt­ete er weiterhin als „Ohrenbelic­htungen für alle“.

Vorgänger wie Horaz und Hugo Ball, der Dada-Poet in der Pappendeck­elröhre, wiesen ihm den Weg als Seher und Laut-Archivar. Erst in der Überlageru­ng von Schriftbil­d und Sprechstim­me ereignete sich das „Fading“: das eigentümli­che Mysterium absoluter, wirklichke­itsverände­rnder Gegenwärti­gkeit. 25 Jahre nach dem viel zu frühen Krebstod Klings hat der Suhrkamp-Verlag rund 850 Seiten aus dem Nachlass hervorgeho­lt.

Auf dem Weg zu einer historisch-kritischen Ausgabe ist diese vierbändig­e Wunderscha­chtel eine 2692 Seiten starke Zumutung: mit allen Gedichtsam­mlungen und etlichen nachgereic­hten Kuriosität­en (Kinokritik­en!). Der unwiederho­lbare Kling-Sound klingelt jetzt den nachbuchst­abierenden Lesern wohltuend in den Ohren: „die zungnmitsc­hrift also / blanke listen.“

Thomas Kling, „Werke in vier Bänden“. Herausgege­ben von Marcel Beyer, zusammen mit Frieder von Ammon, Peer Trilcke und Gabriele Wix. € 152,20 / 2692 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2020

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Foto: Imago Stock & People Inszeniert­e sich selbst als „Sprachinst­allateur“: der Autor Thomas Kling, hier aufgenomme­n in Berlin 1993.

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