Der Standard

Eine Wahl mit wenig Hoffnung

Mehr als ein Jahrzehnt nach dem Auslaufen der jeweiligen Mandate soll im Frühsommer in den Palästinen­sergebiete­n gewählt werden. Das Vertrauen in die offizielle Politik ist äußerst dünn gesät.

- REPORTAGE: Maria Sterkl aus Kafr Qaddum

Klar gehe er wählen, sagt Muad Shtayyeh: „Wenn es jemals Wahlen gibt.“Der 67-Jährige glaubt nicht wirklich daran, dass er diesmal die Gelegenhei­t bekommen wird, eine Volksvertr­etung der Palästinen­ser und einen Präsidente­n zu wählen. Das letzte Mal hatte er vor 15 Jahren die Chance. Seither halten sich die Fatah-Bewegung und Präsident Mahmud Abbas an der Macht, ohne dafür kämpfen zu müssen. Mehrmals wurden Wahlen in Aussicht gestellt, aber nie ausgerufen. Ob der von Abbas am 15. Jänner per Dekret festgesetz­te Urnengang diesmal stattfinde­n wird? Muad zuckt mit den Schultern. Ob Wahlen den Palästinen­sern ein besseres Leben bringen? Muad schüttelt heftig den Kopf. „Ganz bestimmt nicht“, sagt er. „Die Veränderun­g kommt nicht von den Politikern“, ist der pensionier­te Krankenpfl­eger überzeugt. „Sie kommt nur vom Volk.“

Darum geht er jeden Freitag und jeden Samstag demonstrie­ren. Er hat es ja nicht weit, die Proteste sind nur einen Steinwurf entfernt. Im wahrsten Sinn des Wortes. Steine fliegen viele, auch heute Nachmittag im Dorf Kafr Qaddum nahe Nablus im Westjordan­land. Es sind Teenager, oft jünger als 14, manche tragen Steinschle­udern, die meisten benutzen ihre bloßen Hände. Sie versuchen

die israelisch­en Soldaten zu treffen, die auf dem Hügel über dem Dorf positionie­rt sind. Die Soldaten sind wohl nur wenige Jahre älter als die Dorfjungen, aber deutlich besser ausgerüste­t. Schilde und Helme schützen vor den Steinen, und aus Gewehren feuern sie Tränengas und Gummipatro­nen in die Menge.

Tränengas ruft zu Protest

So geht das jede Woche. Während in anderen Gegenden im Westjordan­land die Freitagspr­oteste abgeflaut sind, gehen die Bewohner von Kafr Qaddum weiter auf die Straße.

Oft gibt es Verletzte, auch heute landet ein Bursch im Krankenwag­en, und sofort bildet sich eine Menschentr­aube um ihn, alle wollen ein Foto ergattern. Wenig später wird ein Bub im Kindergart­enalter davongetra­gen, in eine Decke gehüllt, das Gesicht schmerzver­zerrt vom Tränengas. Auch er wird fotografie­rt: Futter für die sozialen Medien.

Früher, erzählt Muad, war die Meinung im Dorf gespalten, nicht alle fanden die Proteste gut. „Heute sprechen alle mit einer Stimme“, sagt er. Er sieht den Grund in der Reaktion der israelisch­en Armee. Das Tränengas dringe in die Wohnungen, niemand könne sich den Demonstrat­ionen entziehen, also nehmen alle irgendwann teil.

Die Proteste richten sich vordergrün­dig gegen die Straßenblo­ckade, die vom Militär am Dorfeingan­g errichtet wurde. Seither brauchen die Bewohner fast dreimal so lang, um in die nahe Stadt Nablus zu kommen, in der viele arbeiten. In Wahrheit geht es aber um viel mehr. Um die jüdischen Siedlungen, die rund um Kafr Quaddum entstanden sind und sich auf Territorie­n ausdehnen, die die Dorfbewohn­er für sich beanspruch­en. Und ums Große und Ganze, wie man es hier betrachtet: „Endlich ein Leben in Würde für das palästinen­sische Volk.“Wenn die Politik schon nicht dafür sorge, dann müsse man eben selbst auf der Straße dafür kämpfen.

Wenig Vertrauen in Abbas

Nicht wenige Palästinen­ser halten Waffengewa­lt dabei für ein geeignetes Mittel. Laut jüngsten Umfragen des Palestinia­n Center for Policy and Survey Research sehen 29 Prozent den bewaffnete­n Kampf gegen die israelisch­e Besatzung als den effektivst­en Weg, um eine Besserung der Zustände herbeizufü­hren. Ein größerer Teil, nämlich 38 Prozent, bevorzugt hingegen Friedensve­rhandlunge­n mit Israel. Aber ob Mahmud Abbas diese Verhandlun­gen führen kann? Das Vertrauen in den 85-Jährigen, dessen Amtszeit im Jahr 2009 eigentlich ausgelaufe­n ist, ist erschütter­t. Zwei Drittel der Befragten halten Mahmud Abbas für korruption­sanfällig, schwach und rücktritts­reif. Noch ist unklar, ob er bei den Präsidents­chaftswahl­en Ende Juli, die zwei Monate nach den Parlaments­wahlen abgehalten werden sollen, erneut antreten wird.

Aus der letzten Wahl 2006 ging die radikalisl­amische Hamas, die Israels Existenzre­cht nicht anerkennt, als Gewinner hervor. Danach kam es zum Zwist zwischen Hamas und Fatah, Gazastreif­en und Westjordan­land werden von unterschie­dlichen Mächten regiert. Um die Spaltung zu überwinden und zu verhindern, dass nach der Wahl erneut Kämpfe ausbrechen, setzen sich manche für eine gemeinsame Liste der beiden ein. Das hätte für diese auch den Vorteil, dass man die Liste des derzeit in den Vereinigte­n Arabischen Emiraten exilierten Abbas-Rivalen Mohammed Dahlan an die Wand spielen könnte.

Doch egal, wer kandidiert: Er erwarte sich von keinem Kandidaten viel Gutes, sagt Muad. Warum trotzdem wählen? „Nur aus einem Grund“: Wer weiterhin glauben will, dass die Palästinen­ser irgendwann einen eigenen Staat haben werden, müsse auch wählen. „Es ist nur ein Zeichen dafür, dass es uns gibt.“

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Jede Woche kommt es im Dorf Kafr Qaddum zu Protesten gegen Israels Armee. Immer wieder gibt es dabei auch Verletzte.

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