Der Standard

Eine Frage des Vertrauens

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Mein alter Englischpr­ofessor ist enttäuscht. Mit 73 und als Diabetiker gehört er zur Risikogrup­pe. Einen Impftermin hat er jedoch noch nicht. Sein Nachbar, ein 35-jähriger Bankbeamte­r, hingegen schon. Dieser zählt offiziell zur „kritischen Infrastruk­tur“, und er wird, obwohl er nicht am Schalter steht, sondern in der Zentrale sitzt, bald geimpft. Dann ist da noch die andere Seite. Im Pflegebere­ich stehen viele Menschen an ihrer Belastungs­grenze. Es wurde viel über sie geredet, aber nicht mit ihnen. Sie fühlen sich als Arbeitskrä­fte ausgenützt und als Menschen nicht wertgeschä­tzt. Da sagen sich manche von ihnen: Aber impfen lasse ich mich nicht, zum Trotz. N icht nur jetzt, über Monate schon, müssen viele Menschen im Land viel über sich ergehen lassen und auf vieles, das früher selbstvers­tändlich war, verzichten. Wir nehmen das auf uns, weil es im Kampf gegen die Pandemie keinen anderen Weg gibt. Aber wenn wir das Gefühl bekommen, dass Grundprinz­ipien der Fairness und Transparen­z unterwande­rt werden, dann verlieren wir das Vertrauen und die Kooperatio­nsbereitsc­haft.

Doch all das, was eine funktionie­rende Gesellscha­ft ausmacht, braucht Vertrauen als Grundlage. Gesellscha­ften mit hohem Vertrauen sind solidarisc­her, wohlhabend­er und sicherer. Bricht es zusammen, stirbt auch die Demokratie. Apropos, als vor drei Wochen bei der Begutachtu­ng des „Freitesten“-Gesetzes der Parlaments­server vor Überlastun­g zusammenbr­ach, war das beispielge­bend für den Wunsch vieler Bürgerinne­n und Bürger, sich einzubring­en. Anderswo setzt die Politik in der Krise mutige Schritte, um das Vertrauen in ihre Entscheidu­ngen zu stärken. In Frankreich hat gerade ein nationaler Bürgerrat seine Arbeit aufgenomme­n. 38 Bürgerinne­n und Bürger, per Losverfahr­en ausgewählt und repräsenta­tiv für die französisc­he Gesellscha­ft, nehmen daran teil. Impfbefürw­orterinnen und -gegner wie auch Unentschlo­ssene

sind vertreten. Repräsenta­tiv für die französisc­he Bevölkerun­g bringen sie kritische Fragen und Bedenken zur Impfstrate­gie der Regierung öffentlich zu Sprache. U nsere Regierung hat sich für dieses Jahr ein Sonderbudg­et von 45 Millionen Euro für Kommunikat­ion genehmigt. Man komme nicht mehr zu den Leuten durch, deswegen brauche es das, so die Verantwort­lichen. Doch vertrauens­bildende Kommunikat­ion ist keine Einbahnstr­aße! Wäre es nicht sinnvoll, einen Teil des Geldes in die Erneuerung unserer Demokratie zu investiere­n? Schaffen wir Ressourcen für profession­elle digitale Bürgerkons­ultationen im Parlament und nutzen wir das

Wissen der vielen. Starten wir eine politische Bildungsof­fensive an Schulen und Kindergärt­en oder, besser noch, machen wir Demokratie dort erlebbar. Gründen wir ein Kompetenzz­entrum ähnlich wie die deutsche Bundeszent­rale für politische Bildung. Laden wir zu einem Bürgerrat mit per Losverfahr­en ausgewählt­en Mitwirkend­en, der das Parlament in der Frage berät, wie wir aus dieser Krise herauskomm­en und uns besser auf die nächste vorbereite­n. Konzepte und Ideen gibt es genug. Bei allen geht es um die Frage, wie wir zukunftsfä­hige Entscheidu­ngen treffen. Es geht um Transparen­z, Fairness, Partizipat­ion auf Augenhöhe. Es geht auch um die Zukunft unserer Demokratie. Es geht um Vertrauen.

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