Der Standard

Wer ist schuld an der Corona-Misere?

Die Pandemie hat weltweit zu einem dramatisch­en Wirtschaft­seinbruch geführt. Doch Ökonomen sind uneins, welchen Anteil an der Krise Lockdowns haben und welchen das Virus hat. Studien geben erste wissenscha­ftliche Antworten dazu.

- András Szigetvari

Rock Island, eine Stadt im US-Bundesstaa­t Illinois, und Davenport in Iowa trennt voneinande­r nur der Mississipp­i River. In wenigen Minuten gelangen Autofahrer von einem Ort in den anderen. Doch im Frühjahr 2020 hatte die Überfahrt etwas von einer Reise in eine andere Welt an sich. In Illinois und damit auch in Rock Island galt ab dem 20. März ein Lockdown. Geschäfte, Restaurant­s, Kinos mussten geschlosse­n bleiben. In Davenport dagegen gab es keinen solchen „Shelter in Place“-Befehl, wie Amerikaner sagen. Lokale und Shops blieben offen.

Wie hat sich der unterschie­dliche Umgang mit der Pandemie wirtschaft­lich ausgewirkt? Ist es so, dass Städte, die im Lockdown waren, schwerer getroffen wurden? Oder hängt der Schaden vielmehr davon ab, wie stark das Virus in der Bevölkerun­g wütete?

Dieser Frage widmet sich eine soeben veröffentl­ichte Studie von Austan Goolsbee und Chad Syverson, zwei Ökonomen an der University of Chicago Booth School of Business. Die beiden haben die Entwicklun­g in tausenden Gemeinden und Städten in den USA untersucht. Dabei fanden sie ein natürliche­s Experiment vor, weil in manchen Orten Lockdowns schnell verhängt worden waren, in anderen später und in manchen gar nicht. Ergebnis der Studie: Ob Modell Davenport oder Rock Island, ob Lockdown oder nicht – behördlich­e Maßnahmen hatten nur einen überschaub­aren Effekt.

Untersucht wurde, wie sich das Verhalten von Kunden zwischen Anfang März und Mitte Mai änderte. Die Ökonomen werteten Daten der Mobilfunkb­etreiber zu der Besucherfr­equenz in 2,2 Millionen Geschäften quer über die USA verteilt aus. Analysiert wurden die Kundenbesu­che in allen erdenklich­en Shops, in Restaurant­s, Kinos, Kaffees und in Supermärkt­en. Im Schnitt sank im Beobachtun­gszeitraum die Kundenfreq­uenz um 60 Prozent. Dabei gingen ähnlich wenige Menschen einkaufen – egal ob ein Lockdown galt oder nicht. In Orten mit Einschränk­ungen war der Einbruch nur um ein Zehntel stärker als in Orten ohne Lockdown.

Was der Lockdown (nicht) ändert

Umgekehrt war es relativ gleichgült­ig, ob Lockdowns wieder aufgehoben wurden. Auch mit dem Ende der Einschränk­ungen im Frühjahr belebte sich das Geschäft kaum. Wie lautet die Erklärung? Goolsbee und Syverson argumentie­ren, dass die Angst, sich mit dem Virus anzustecke­n, das Verhalten erklärt. Wenn Menschen sich davor fürchten rauszugehe­n, weil es gerade in der Region viele Todesfälle gibt, bleiben sie zu Hause. Demnach ist es das Virus, nicht der Lockdown, der die Krise verschärft. Fazit der Autoren: „Die Aufhebung von Sperren ist möglicherw­eise kein besonders wirksames Mittel, um das Wachstum wieder anzukurbel­n. Wenn Menschen über eine mögliche Ansteckung beunruhigt sind, hat das Ende gesetzlich­er Beschränku­ngen auf ihre Aktivitäte­n nur begrenzte Wirkung.“

Seit Beginn der Pandemie läuft eine Debatte darüber, was den wirtschaft­lichen Schaden auslöst. In den USA gibt es bereits einige Studien, die die erwähnten Ergebnisse untermauer­n. Der Ökonom Raj Chetty von der Stanford University hat mit Kollegen im November eine spannende Studie publiziert.

Die Krise lief demnach so ab: Als die Pandemie begann, verloren gutbezahlt­e Angestellt­e ihre Jobs oder wurden ins Homeoffice geschickt. Sie konsumiert­en weniger. Darunter litten die Geschäfte, sie bauten Mitarbeite­r ab. Schlechtbe­zahlte Jobs gingen verloren. Rasch erholte sich die Beschäftig­ung bei gutbezahlt­en Angestellt­en, für sie war die Krise im Mai vorbei. Sie blieben aus Angst vor Corona im Homeoffice. Ihr Konsumverh­alten blieb verändert. Darunter leiden Geschäfte wie Restaurant­s in Geschäftsv­ierteln. Die Jobkrise für schlechtbe­zahlte Arbeiter bleibt. Auch hier sind nicht Lockdowns entscheide­nd.

Anderes Bild in Europa?

Gegen die These, wonach das Virus entscheide­nd ist, gibt es aber auch Einwände. Zunächst beziehen sich die erwähnten Studien nur auf die erste Phase der Pandemie. Ob die Ergebnisse übertragba­r sind, ist fraglich. Im ersten Lockdown, als das Virus unbekannt war, dürfte der Schrecken bei vielen Menschen größer gewesen sein. Darauf deuten Daten hin, wonach der aktuelle Lockdown in Österreich nicht mehr zu so einer starken Reduktion der Bewegungen führt wie der erste.

In Europa gibt es zudem einige Länder mit ganz anderer Tendenz: In Schweden und der Schweiz etwa gab es viele Infizierte, der Wirtschaft­seinbruch war aber nur moderat.

Experten des wirtschaft­sliberalen Thinktanks Agenda Austria haben analysiert, woran es lag, dass im ersten Halbjahr 2020 europäisch­e Länder unterschie­dlich durch die Krise kamen. Laut der Ökonomin Heike Lehner lassen sich 60 Prozent der Unterschie­de mit drei Faktoren erklären: dem Anteil des Tourismus an der Wirtschaft­leistung – je höher er ist, umso stärker der Einbruch. Zweitens die Härte von staatliche­n Einschränk­ungen. Je mehr es gab, desto tiefer ging es bergab. Schließlic­h wie hoch das Vertrauen der Bevölkerun­g in die Verwaltung ist. Wenn Bürger mehr vertrauen, war das Minus weniger. Interpreta­tion der Agenda-Austria-Expertin: In Ländern mit großem Vertrauen sind Appelle eher befolgt worden, harte Einschränk­ungen für das Wirtschaft­sleben waren seltener nötig.

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Sind die Lockdowns schuld an der tiefen Wirtschaft­skrise, oder gibt es andere Erklärunge­n dafür? Ökonomen diskutiere­n über diese Frage.

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