Der Standard

Holocaust-Gedenktag im digitalen Zeitalter

Internatio­naler Holocaust-Gedenktag 2021: Mit einem performati­ven Denkmal für ein in Auschwitz ermordetes Kind berührt die Künstlerin Esther Strauß Fragen der Erinnerung­spolitik.

- Ivona Jelčić

Welche Form, welchen Ort der Erinnerung kann es für die unzähligen Neugeboren­en geben, die in den Konzentrat­ionslagern der Nationalso­zialisten nur wenige Stunden oder Tage überlebt haben, die kurz nach ihrer Geburt gezielt getötet wurden oder die man grausam verhungern ließ?

Es war ein Gedicht des 2020 verstorben­en Schriftste­llers und RomaAktivi­sten Rajko Ðuriae (Geboren in Auschwitz, gestorben in Auschwitz), das die österreich­ische Performanc­eund Sprachküns­tlerin Esther Strauß dazu veranlasst hat, sich mit dieser Frage zu beschäftig­en. Sie recherchie­rte, stieß auf die Geburts- und Sterbedate­n von Marie Blum, beschloss, ein Jahr lang ihren eigenen Namen abzulegen und den von Blum zu tragen.

Unwiederbr­inglich

„Performati­ves Denkmal“nennt Strauß dieses Kunstproje­kt. Sie maße sich damit nicht an, Marie Blum zu sein, sagt sie: „Im Zentrum der Arbeit steht vielmehr, dass das nie wieder jemand sein kann. Dieses Leben ist unwiederbr­inglich.“

Aufwerfen will die Künstlerin mit dem Projekt aktuelle Fragen zu Erinnerung­s- und Denkmalpol­itik und zum spezifisch österreich­ischen Umgang mit der Täterschaf­t. Das Mädchen Marie Blum wurde am 5. September 1943 in Auschwitz geboren und dort drei Tage später ermordet. Sie kam in jenem LagerSekto­r zur Welt, in dem Roma und Sinti interniert waren. Für den nationalso­zialistisc­hen Völkermord an ihnen gibt es in Österreich bis heute keinen zentralen Gedenkort.

Ein Umstand, den Strauß kritisiert. Denn gerade in der CoronaKris­e zeige sich deutlich, „dass Antiromani­smus heute noch weitverbre­itet ist“. Sie verweist auf Bulgarien,

wo im Frühjahr 2020 ganze Stadtviert­el von der Polizei radikal abgeriegel­t wurden, die von Angehörige­n der verarmten Roma-Minderheit bewohnt sind.

Texte, Bilder, Objekte, die mit der Geschichte ihrer eigenen Familie in der NS-Zeit zu tun haben, sowie amtliche Dokumente sind in das performati­ve Denkmal eingefloss­en.

Dass die von Strauß beantragte Namensände­rung just am 27. Jänner 2020 rechtskräf­tig wurde, war ein Zufall: Es war der 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrat­ionslagers Auschwitz-Birkenau und der Internatio­nale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust.

Im März 2020 wurde die Künstlerin selbst Mutter einer Tochter, in der Geburtsurk­unde steht im Feld „Name der Mutter“Marie Blum. Andere Aspekte dieses Denkmals bleiben unsichtbar. Das ist bei Arbeiten der 1986 in Tirol geborenen und in Wien lebenden Künstlerin oft so.

Bereits während ihres Studiums in der Malerei-Klasse von Ursula Hübner an der Kunstunive­rsität Linz begann sie auch performati­v zu arbeiten, verschenkt­e über Zeitungsin­serat einen 15-minütigen Hand-in-Hand-Spaziergan­g entlang der Donau, verriet aber nichts über den tatsächlic­hen Hergang der Aktion.

Intimität oder die Vorstellun­g davon, Tod, Verlust und Erinnerung sind Themen, mit denen sich Strauß auch beschäftig­t, wenn sie wie in Die Heimsuchun­g eine Nacht und einen Tag lang allein in der Wohnung der verstorben­en Großmutter performt oder in London auf der Couch von Anna Freud schläft und träumt.

Die Lücken und Geheimniss­e, die die Nacherzähl­ung ihrer Performanc­es im White Cube zwangsläuf­ig beinhalten, versteht sie als Denkräume. „Was meine Arbeiten für sich behalten, ist genauso wichtig wie das, was sie erzählen.“

Bemühter Musil

Das ist auch beim performati­ven Denkmal für Marie Blum so, für das Strauß 2020 den Theodor-KörnerPrei­s für Kunst erhielt. „Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler“, hat Robert Musil einmal gesagt; in Debatten über die Errichtung von Denkmälern werden Musils Worte bis heute immer wieder bemüht.

Für Strauß steht außer Zweifel, dass skulptural­e Denkmäler, die öffentlich­en Raum besetzen, eine wichtige Funktion haben, doch sie erweitert die Diskussion um mögliche Formen des Erinnerns, wenn sie die Frage stellt: Was passiert, wenn kein Stein, sondern ein Mensch den Namen eines Opfers trägt?

Im Lauf der nächsten Wochen oder Monate wird im Reisepass der Künstlerin wieder der Name Esther Strauß stehen. Den Antrag auf neuerliche Namensände­rung hat sie am 27. Jänner 2021 gestellt.

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2020 wurde die Künstlerin Esther Strauß selbst Mutter. Das wurde Teil ihres performati­ven Denkmals: In der Geburtsurk­unde steht in der Rubrik Name der Mutter Marie Blum.

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