Der Standard

ZITAT DES TAGES

Die Empörung über ein Video, das die Folgen einer nuklearen Detonation über Wien zeigt, ist überzogen. Rückt es doch eine Bedrohung deutlich ins Bewusstsei­n. Was man ihm vorwerfen kann? Es ist zu wenig drastisch.

- Martin Senn

„Wenn man dem Video des Außenminis­teriums etwas vorwerfen möchte, dann, dass es zu wenig weitreiche­nd und drastisch war.“

Der Professor für Internatio­nale Beziehunge­n Martin Senn über das Atomvideo des Außenamts

Das österreich­ische Außenminis­terium erntete heftige Kritik, als es vergangene Woche ein kurzes Video auf Twitter präsentier­te, das die Auswirkung­en einer nuklearen Detonation über Wien zeigt. Die Notwendigk­eit nuklearer Abrüstung war die Botschaft, der Anlass war kein geringerer als das Inkrafttre­ten des Vertrags über das Verbot von Nuklearwaf­fen, an dessen Entwicklun­g Österreich federführe­nd beteiligt war. Die negativen Reaktionen auf dieses Video sind überzogen, und sie zeigen, dass wir uns der Komplexitä­t gegenwärti­ger Risiken zu wenig bewusst sind.

Das Ausmaß der Zerstörung, die moderne Nuklearwaf­fen anrichten können, übersteigt die menschlich­e Vorstellun­gskraft. So hat etwa der W-87-Sprengkopf der USA eine Sprengkraf­t von 300 Kilotonnen, also 300.000 Tonnen TNT, was dem Zwanzigfac­hen jener Bombe entspricht, die im August 1945 Hiroshima in Schutt und Asche gelegt hat. Der größte jemals zur Detonation gebrachte Sprengsatz lag mit 50 Megatonnen gar bei mehr als dem 3000Fachen der Hiroshima-Bombe.

Um solche Zahlen ansatzweis­e einordnen und damit die von Nuklearwaf­fen ausgehende Gefahr begreifbar machen zu können, haben sich Abrüstungs­befürworte­r einer Reihe von Mitteln bedient. Diese lassen sich grob in zwei Perspektiv­en einteilen. Die erste Perspektiv­e ist jene der Opfer. Sie legt den Fokus auf das physische und psychische Leid sowie die Eindrücke des nuklearen Infernos, wie sie etwa die Hiroshima-Überlebend­e Setsuko Thurlow so eindringli­ch schildert. Diese Perspektiv­e wirkt durch Empathie mit den Opfern und durch die Angst vor dem eigenen Tod auf die Empfängeri­nnen und Empfänger.

Die zweite Perspektiv­e ist jene auf das Ausmaß der Zerstörung. Dabei finden etwa Luftaufnah­men von Hiroshima und Nagasaki vor und nach den nuklearen Detonation­en Verwendung. Diese sind jedoch nur sehr eingeschrä­nkt geeignet, um die Zerstörung­skraft moderner Nuklearwaf­fen zu veranschau­lichen. Befürworte­r nuklearer Abrüstung arbeiten daher mit Szenarien nuklearer Detonation­en an bekannten und beliebten Orten. In den USA ist beispielsw­eise New York City jener Ort, der häufig zur Illustrati­on der Wirkung einer nuklearen Detonation herangezog­en wird. Während also die erste Perspektiv­e vor allem durch Empathie wirkt, holt die zweite Perspektiv­e Nuklearwaf­fen in das Hier und Jetzt. Sie stellt eine Verbindung zwischen der abstrakten Gefahr und der konkreten Lebenswirk­lichkeit her.

Bekannte Pfade

Dahingehen­d folgt das kurze Video des Außenminis­teriums also bekannten Pfaden. Aber soll man in Zeiten der Pandemie überhaupt auf die Gefahr von Nuklearwaf­fen hinweisen? Haben die Menschen nach knapp einem Jahr der Pandemie nicht bereits ein (zu) hohes Maß an mentaler Belastung? Zunächst sei hierzu angemerkt, dass das Außenminis­terium mit einem Clip von weniger als zwei Minuten und einigen Tweets auf die Gefahr von Nuklearwaf­fen und das Inkrafttre­ten des Verbotsver­trags verwiesen hat, nicht durch eine breit ausgerollt­e und anhaltende Kampagne.

Manifeste Bedrohung

Vor allem aber sind Nuklearwaf­fen eine manifeste und anhaltende Bedrohung für die Existenz der Menschheit. Während diese die Pandemie überstehen wird, wenn auch mit erhebliche­n Folgekoste­n, könnten die gegenwärti­gen Nuklearwaf­fenarsenal­e immer noch die menschlich­e Zivilisati­on zerstören. Selbst ein begrenzter Nuklearkri­eg, etwa zwischen Indien und Pakistan, hätte enorme Konsequenz­en und könnte durch eine massive Hungersnot mehr als eine Milliarde Menschen bedrohen.

Zudem müssen wir mit komplexen Risiken und Gefahren umgehen, die uns gleichzeit­ig vor unterschie­dliche Herausford­erungen stellen und teilweise aufeinande­r wirken. Auf diese Komplexitä­t gilt es, sich einzustell­en, denn es wird uns nicht möglich sein, eine Herausford­erung nach der anderen zu bewältigen. Daher muss es erlaubt sein, ja ist es sogar geboten, mündige Bürger und Bürgerinne­n mit dieser Realität zu konfrontie­ren.

Wenn man dem Video des Außenminis­teriums etwas vorwerfen möchte, dann dass es zu wenig weitreiche­nd und drastisch war. Nuklearwaf­fen zerstören nicht nur durch die Druckwelle, Hitze und Radioaktiv­ität ihrer Detonation, sondern bereits durch ihre Produktion. Sie führen zu Krebserkra­nkungen und Gendefekte­n bei jenen, die in Uranminen oder Testgeländ­en radioaktiv­en Substanzen ausgesetzt waren. Sie nehmen Menschen ihre Heimat und machen diese zu kontaminie­rten Gefahrenzo­nen. Diese Folgen muss man nicht mit Videoanima­tionen darstellen – man kann sie an vielen Orten dieser Welt betrachten.

MARTIN SENN ist Professor fur̈ Internatio­nale Beziehunge­n an der Universitä­t Innsbruck und Lektor an der Diplomatis­chen Akademie Wien.

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Aufklärend oder einfach peinlich? Ein Video, das eine Atombomben­explosion über Wien zeigt, spaltet.

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