Der Standard

„Die queeren Holocausto­pfer kommen nicht vor“

Das KZ Theresiens­tadt ist für seine Kunst und Kindererzi­ehung bekannt. Die tschechisc­he Historiker­in Anna Hájková fordert in einem neuen Buch dazu auf, der Alltagsges­chichte mehr Raum zu geben. „Es gibt oft die Vorstellun­g, dass Menschen in Zwangssitu­atio

- INTERVIEW: Sebastian Pumberger

Theresiens­tadt ist nur eines von vielen Lagern des Holocausts, Menschen vieler Nationalit­äten, viele Tschechen, aber auch Österreich­er, wurden hier eingesperr­t, wegen ihrer Herkunft verfolgt und ermordet – oder schließlic­h in die Vernichtun­gslager abtranspor­tiert. Doch bei all dem Grauen, an das wir am heutigen Holocaust-Gedenktag erinnern, formten Menschen hier eine Gesellscha­ft und setzten Alltagshan­dlungen, auch in einer totalen Institutio­n. Die Historiker­in Anna Hájková hat in ihrem neuen Buch The Last Ghetto diese Alltagsges­chichte von Theresiens­tadt untersucht.

STANDARD: In Ihrem Buch fordern Sie, die Meistererz­ählung („master narrative“) über Theresiens­tadt zu verlassen. Wie würden Sie diese beschreibe­n?

Hájková: Dass Theresiens­tadt ein Ghetto war, das wir wegen der herausrage­nden künstleris­chen Leistung oder der Kinderpfle­ge kennen. Diese Meistererz­ählung betont die Solidaritä­t und etwas, was man als Triumph des menschlich­en Geists bezeichnen könnte. Der Weg zu diesem Narrativ ist nachvollzi­ehbar. Allerdings ist es im Jahr 2021 und im Zeitalter des Populismus wichtig, eine offene Geschichts­schreibung jenseits von Floskeln über die Gesellscha­ft in KZs zu betreiben.

STANDARD: Welche Erkenntnis­se bekommen wir, wenn wir diese Meistererz­ählung verlassen und uns den Alltag anschauen?

Hájková: Wir verstehen dann viel über die Gesellscha­ft in Extremen. Jedes Lager und jeder erzwungene Ort hat Regeln, die sich aus dem Alter, aus den Geschlecht­erverhältn­issen, aus dem Habitus und vielem mehr zusammense­tzen. Es gibt oft die Vorstellun­g, dass Menschen in Zwangssitu­ationen keine Entscheidu­ngsgewalt haben. Doch mit wem man sich für den Transport meldet, ob mit den Eltern oder mit dem Geliebten – das sind wichtige Entscheidu­ngen. Wir sollten Sie nicht als Hintergrun­dgeräusch des Holocausts abtun.

STANDARD: Ein Teil der Gesellscha­ft ist Sexualität in den verschiede­nsten Formen. Welche Rolle spielt diese in dieser Meistererz­ählung? Hájková: Alle Insassen sind keusch, und abgesehen

davon sind sie heterosexu­ell. Es sind die queeren Holocausto­pfer, die nicht vorkommen. Wenn doch, dann wird lange Zeit ihre Queerness ausradiert, wie bei Fredy Hirsch. Wir müssen uns mit der Frage auseinande­rsetzen, welche sozialen Verhalten in Theresiens­tadt und anderen KZs stigmatisi­ert und akzeptiert werden. Was heißt es, wenn ein tschechisc­her Junge mit einer anderen Tschechin ausgeht oder mit einer Hamburger Frau. Da sind große Unterschie­de. Mein Punkt ist nicht: Wie unanständi­g haben sich die tschechisc­hen Männer den ausländisc­hen Frauen gegenüber benommen? Sondern wie verhandelt wird, wer ein würdiger Partner ist.

STANDARD: Sie haben in einem Artikel beschriebe­n, wie eine Frau eine queere Beziehung zu einer KZ-Aufseherin hatte. Die Tochter dieser Frau hat Sie wegen Verletzung des postmortal­en Persönlich­keitsschut­zes verklagt. Ist dieser Prozess ein Zeichen, wie Geschichte nach dem Tod von Zeitzeugen verhandelt wird?

Hájková: Ich glaube nicht, dass es etwas mit dem Sterben der Überlebend­en zu tun hat, sondern vielmehr mit einem Angriff auf akademisch­e Freiheiten, den wir überall sehen können. Das kann durchaus als ein Versuch erachtet werden, Forscher zum Schweigen zu bringen. Es geht um die ganze Zeitgeschi­chte und die Frage, ob wir uns Sorgen machen müssen, was wir forschen. Deswegen hat es mich gefreut, dass zwei Kollegen einen Brief zu meiner Unterstütz­ung, gleichzeit­ig ein Plädoyer für Mut, schwierige Geschichte zu erforschen, publiziert haben, den mehrere Hundert namhafte Forscher aus der ganzen Welt unterstütz­t haben.

STANDARD: Welchen Eindruck hatten die Menschen in Theresiens­tadt bei ihrer Ankunft? Hájková: Die Ankunft in Theresiens­tadt ist wie die Ankunft in jeder totalen Institutio­n ein Schock, zuerst durchläuft man die Schleuse, das ist eine abgesonder­te Kaserne, wo die Personalie­n aufgenomme­n werden, die Habseligke­iten durchsucht und manchmal beschlagna­hmt werden. Der Transport und die Ankunft sind entwürdige­nd. Dann wird man auf schlechte Unterkünft­e aufgeteilt, die aus irgendwelc­hen Gründen noch nicht genom

men wurden. Als im Sommer 1942 die alten deutschen und österreich­ischen Juden ankommen, stehen nur mehr die Dachböden ohne Licht und Strom zur Verfügung.

STANDARD: Wie wird Theresiens­tadt organisier­t?

Hájková: Theresiens­tadt wird nominell von der SS verwaltet, aber zur eigentlich­en Administra­tion wurde die jüdische Selbstverw­altung

gezwungen. Der SS-Kommandant – alle drei in Theresiens­tadt waren Österreich­er – bestellte die Judenältes­ten jeden Morgen, es gab diverse Erniedrigu­ngsrituale und Anordnunge­n. Die Selbstverw­altung war für die Essensvert­eilung zuständig, organisier­te, wie Kinder untergebra­cht wurden, und sogar die Namen auf den Transportl­isten. Sie bemühte sich, auch die Familien als Einheit in den Osten zu schicken. Es war ein Job, den man auch nicht „gut“machen konnte.

STANDARD: Wie sieht nun der Alltag in Theresiens­tadt aus?

Hájková: Theresiens­tadt ist voll, es sind überall Menschenma­ssen. Wenn ein SS-Mann vorbeikomm­t, müssen die Leute ihm Platz machen. Die Straßen sind nicht gepflaster­t und sehr schmutzig. Mittags und abends geht man zur Essensausg­abe. Wichtige Bezugspers­onen sind die Zimmergeno­ssen und das Kollektiv in der Arbeit. Darüber hinaus gibt es Freunde und Verwandte oder wenn es Tschechen sind die Kernfamili­e. Es ist ein ständiges Kümmern, Hungrig- und Unausgesch­lafen-Sein. Im Sommer, wenn es heiß wird, kommen die Bettwanzen. Und natürlich: Immer drohen die Transporte.

STANDARD: Wie viel wussten die Menschen von den Transporte­n in die Vernichtun­gslager? Hájková: Die Leute wussten, dass die Transporte in Orte gingen, die schlechter und bedrohlich­er sein würden als Theresiens­tadt. Sie nahmen an, dass die alten und kranken Leute sterben würden. Sie wussten nicht über die mechanisch­e Ermordung Bescheid. Es gab immer wieder Möglichkei­ten, wie man hätte feststelle­n können, was im Osten passiert, aber es ist ein Wissen, das nicht ankommt. Es ist für die Theresiens­tädter ein Schock, als Leute aus Todesmärsc­hen in Theresiens­tadt ankommen. Diese berichten genau, was vorgefalle­n ist. Dann glauben sie diese Nachrichte­n, weil es von Augenzeuge­n erzählt wird.

STANDARD: Was macht das mit einer Gesellscha­ft, wenn dieser Transport ständig droht? Hájková: Es ist ein ständiger Stress, der den Menschen über dem Kopf hängt. In die Schleuse in der Kaserne kommen nicht nur die Leute vom Transport, sondern auch eine sogenannte Reserve, sodass die Leute, die herausrekl­amiert werden, ersetzt werden können. Nach ein paar Stunden ist es vorbei, und es geht weiter, als wäre nichts gewesen. Die Leute gewöhnen sich an alles, aber es macht etwas mit ihnen. Die Gesellscha­ft funktionie­rt bis zum Letzten.

ANNA HÁJKOVÁ ist Professori­n für Geschichte an der Universitä­t Warwick, Großbritan­nien. Sie ist in diesem Semester Käthe-Leichter-Gastprofes­sorin am Institut für Zeitgeschi­chte der Uni Wien. Vor kurzem ist ihr Buch „The Last Ghetto“erschienen.

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Am 27. Jänner 1945 wurde Auschwitz befreit. In Theresiens­tadt – hier im Bild – sollte es noch bis in den Mai 1945 dauern.
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