„Die queeren Holocaustopfer kommen nicht vor“
Das KZ Theresienstadt ist für seine Kunst und Kindererziehung bekannt. Die tschechische Historikerin Anna Hájková fordert in einem neuen Buch dazu auf, der Alltagsgeschichte mehr Raum zu geben. „Es gibt oft die Vorstellung, dass Menschen in Zwangssituatio
Theresienstadt ist nur eines von vielen Lagern des Holocausts, Menschen vieler Nationalitäten, viele Tschechen, aber auch Österreicher, wurden hier eingesperrt, wegen ihrer Herkunft verfolgt und ermordet – oder schließlich in die Vernichtungslager abtransportiert. Doch bei all dem Grauen, an das wir am heutigen Holocaust-Gedenktag erinnern, formten Menschen hier eine Gesellschaft und setzten Alltagshandlungen, auch in einer totalen Institution. Die Historikerin Anna Hájková hat in ihrem neuen Buch The Last Ghetto diese Alltagsgeschichte von Theresienstadt untersucht.
STANDARD: In Ihrem Buch fordern Sie, die Meistererzählung („master narrative“) über Theresienstadt zu verlassen. Wie würden Sie diese beschreiben?
Hájková: Dass Theresienstadt ein Ghetto war, das wir wegen der herausragenden künstlerischen Leistung oder der Kinderpflege kennen. Diese Meistererzählung betont die Solidarität und etwas, was man als Triumph des menschlichen Geists bezeichnen könnte. Der Weg zu diesem Narrativ ist nachvollziehbar. Allerdings ist es im Jahr 2021 und im Zeitalter des Populismus wichtig, eine offene Geschichtsschreibung jenseits von Floskeln über die Gesellschaft in KZs zu betreiben.
STANDARD: Welche Erkenntnisse bekommen wir, wenn wir diese Meistererzählung verlassen und uns den Alltag anschauen?
Hájková: Wir verstehen dann viel über die Gesellschaft in Extremen. Jedes Lager und jeder erzwungene Ort hat Regeln, die sich aus dem Alter, aus den Geschlechterverhältnissen, aus dem Habitus und vielem mehr zusammensetzen. Es gibt oft die Vorstellung, dass Menschen in Zwangssituationen keine Entscheidungsgewalt haben. Doch mit wem man sich für den Transport meldet, ob mit den Eltern oder mit dem Geliebten – das sind wichtige Entscheidungen. Wir sollten Sie nicht als Hintergrundgeräusch des Holocausts abtun.
STANDARD: Ein Teil der Gesellschaft ist Sexualität in den verschiedensten Formen. Welche Rolle spielt diese in dieser Meistererzählung? Hájková: Alle Insassen sind keusch, und abgesehen
davon sind sie heterosexuell. Es sind die queeren Holocaustopfer, die nicht vorkommen. Wenn doch, dann wird lange Zeit ihre Queerness ausradiert, wie bei Fredy Hirsch. Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, welche sozialen Verhalten in Theresienstadt und anderen KZs stigmatisiert und akzeptiert werden. Was heißt es, wenn ein tschechischer Junge mit einer anderen Tschechin ausgeht oder mit einer Hamburger Frau. Da sind große Unterschiede. Mein Punkt ist nicht: Wie unanständig haben sich die tschechischen Männer den ausländischen Frauen gegenüber benommen? Sondern wie verhandelt wird, wer ein würdiger Partner ist.
STANDARD: Sie haben in einem Artikel beschrieben, wie eine Frau eine queere Beziehung zu einer KZ-Aufseherin hatte. Die Tochter dieser Frau hat Sie wegen Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsschutzes verklagt. Ist dieser Prozess ein Zeichen, wie Geschichte nach dem Tod von Zeitzeugen verhandelt wird?
Hájková: Ich glaube nicht, dass es etwas mit dem Sterben der Überlebenden zu tun hat, sondern vielmehr mit einem Angriff auf akademische Freiheiten, den wir überall sehen können. Das kann durchaus als ein Versuch erachtet werden, Forscher zum Schweigen zu bringen. Es geht um die ganze Zeitgeschichte und die Frage, ob wir uns Sorgen machen müssen, was wir forschen. Deswegen hat es mich gefreut, dass zwei Kollegen einen Brief zu meiner Unterstützung, gleichzeitig ein Plädoyer für Mut, schwierige Geschichte zu erforschen, publiziert haben, den mehrere Hundert namhafte Forscher aus der ganzen Welt unterstützt haben.
STANDARD: Welchen Eindruck hatten die Menschen in Theresienstadt bei ihrer Ankunft? Hájková: Die Ankunft in Theresienstadt ist wie die Ankunft in jeder totalen Institution ein Schock, zuerst durchläuft man die Schleuse, das ist eine abgesonderte Kaserne, wo die Personalien aufgenommen werden, die Habseligkeiten durchsucht und manchmal beschlagnahmt werden. Der Transport und die Ankunft sind entwürdigend. Dann wird man auf schlechte Unterkünfte aufgeteilt, die aus irgendwelchen Gründen noch nicht genom
men wurden. Als im Sommer 1942 die alten deutschen und österreichischen Juden ankommen, stehen nur mehr die Dachböden ohne Licht und Strom zur Verfügung.
STANDARD: Wie wird Theresienstadt organisiert?
Hájková: Theresienstadt wird nominell von der SS verwaltet, aber zur eigentlichen Administration wurde die jüdische Selbstverwaltung
gezwungen. Der SS-Kommandant – alle drei in Theresienstadt waren Österreicher – bestellte die Judenältesten jeden Morgen, es gab diverse Erniedrigungsrituale und Anordnungen. Die Selbstverwaltung war für die Essensverteilung zuständig, organisierte, wie Kinder untergebracht wurden, und sogar die Namen auf den Transportlisten. Sie bemühte sich, auch die Familien als Einheit in den Osten zu schicken. Es war ein Job, den man auch nicht „gut“machen konnte.
STANDARD: Wie sieht nun der Alltag in Theresienstadt aus?
Hájková: Theresienstadt ist voll, es sind überall Menschenmassen. Wenn ein SS-Mann vorbeikommt, müssen die Leute ihm Platz machen. Die Straßen sind nicht gepflastert und sehr schmutzig. Mittags und abends geht man zur Essensausgabe. Wichtige Bezugspersonen sind die Zimmergenossen und das Kollektiv in der Arbeit. Darüber hinaus gibt es Freunde und Verwandte oder wenn es Tschechen sind die Kernfamilie. Es ist ein ständiges Kümmern, Hungrig- und Unausgeschlafen-Sein. Im Sommer, wenn es heiß wird, kommen die Bettwanzen. Und natürlich: Immer drohen die Transporte.
STANDARD: Wie viel wussten die Menschen von den Transporten in die Vernichtungslager? Hájková: Die Leute wussten, dass die Transporte in Orte gingen, die schlechter und bedrohlicher sein würden als Theresienstadt. Sie nahmen an, dass die alten und kranken Leute sterben würden. Sie wussten nicht über die mechanische Ermordung Bescheid. Es gab immer wieder Möglichkeiten, wie man hätte feststellen können, was im Osten passiert, aber es ist ein Wissen, das nicht ankommt. Es ist für die Theresienstädter ein Schock, als Leute aus Todesmärschen in Theresienstadt ankommen. Diese berichten genau, was vorgefallen ist. Dann glauben sie diese Nachrichten, weil es von Augenzeugen erzählt wird.
STANDARD: Was macht das mit einer Gesellschaft, wenn dieser Transport ständig droht? Hájková: Es ist ein ständiger Stress, der den Menschen über dem Kopf hängt. In die Schleuse in der Kaserne kommen nicht nur die Leute vom Transport, sondern auch eine sogenannte Reserve, sodass die Leute, die herausreklamiert werden, ersetzt werden können. Nach ein paar Stunden ist es vorbei, und es geht weiter, als wäre nichts gewesen. Die Leute gewöhnen sich an alles, aber es macht etwas mit ihnen. Die Gesellschaft funktioniert bis zum Letzten.
ANNA HÁJKOVÁ ist Professorin für Geschichte an der Universität Warwick, Großbritannien. Sie ist in diesem Semester Käthe-Leichter-Gastprofessorin am Institut für Zeitgeschichte der Uni Wien. Vor kurzem ist ihr Buch „The Last Ghetto“erschienen.