Der Standard

Holocaust-Gedenken auf Instagram und Co

Digitale Medien spielen eine immer wichtigere Rolle für die Erinnerung­skultur. Nicht nur während der Pandemie ermögliche­n sie neue Zugänge zu Zeugenscha­ft.

- Bert Rebhandl

Darf man vor dem Tor in Auschwitz ein Selfie machen? Womöglich gar mit einem Lächeln im Gesicht, wie es angesichts einer Kamera viele Menschen fast unwillkürl­ich zeigen? Oder vielleicht sogar vor den Gaskammern? Fragen dieser Art sind keineswegs frivol, sondern sie zeugen davon, wie es bald achtzig Jahre nach dem Holocaust um das Gedenken an den Genozid an den europäisch­en Juden steht. Gedenkstät­ten spielen eine bedeutende Rolle, genauso aber auch die digitalen Plattforme­n, auf denen Menschen ihr Leben teilen. Und so gibt es sogar so etwas wie einen Instagram-Effekt auf das HolocaustG­edenken, und Facebook, das ja alle Bereiche des menschlich­en Lebens erfassen will, bietet sich als „virtueller Erinnerung­sort“(„virtual memory place“) an, mit der Möglichkei­t, für Opfer ein Profil anzulegen, um auf diese Weise ihr Andenken zu bewahren.

Mit den aktuellste­n Aspekten dieses Aufstiegs einer „social media memory“, in der die großen Plattforme­n zu neuen Gedächtnis­orten werden, hat sich zuletzt der in Jerusalem tätige Historiker Tobias Ebbrecht-Hartmann beschäftig­t. In einem Text mit dem Titel Commemorat­ing from a Distance arbeitet er Beispiele dafür heraus, wie sich die digitale Transforma­tion des Holocaust-Gedenkens unter den Bedingunge­n der Covid-19-Pandemie weiterentw­ickelt.

Ebbrecht-Hartmanns Überlegung­en und Funde gehören in den Kontext des Projekts Visual History of the Holocaust. Rethinking Curating in the Digital Age, das vom Ludwig Boltzmann Institute for Digital History und vom Österreich­ischen Filmmuseum koordinier­t wird und noch bis 2022 läuft.

Die letzten Zeitzeugen

Die digitale Revolution fällt historisch mit dem Verlust der letzten persönlich­en Zeugen des Holocaust zusammen und ermöglicht neue Zugänge zu Zeugenscha­ft, zum Beispiel in dem Projekt Dimensions in Testimony, das Ebbrecht-Hartmann auch erwähnt und das im Wesentlich­en auf eine holografis­che Gesprächss­ituation mit verstorben­en Menschen hinausläuf­t, die auf diese Weise eine andere mediale Präsenz gewinnen, als es mit Lektüre oder auch Videobilde­rn der Fall wäre.

Die Kontaktbes­chränkunge­n durch die Pandemie verstärken somit eine Tendenz, die auch davor schon zu erkennen war: Die Gedenkstät­ten müssen ihre Aufgaben für die Bedingunge­n von Youtube oder Instagram neu bestimmen.

Ebbrecht-Hartmann nennt als Beispiel Mauthausen, wo man bald nach dem ersten Lockdown zu „Digital Education“überging: Dabei wurde einerseits das ehemalige Konzentrat­ionslager in Point-of-View-Ästhetik, die in digitalen Medien stark verwendet wird, neu „geöffnet“, gleichzeit­ig wurde auch das dokumentar­ische Material (Fotografie­n) mit den entspreche­nden Formaten (Instagram-Story, Youtube-Video) in neue Kontexte gesetzt. Mit vielen anderen Beispielen macht EbbrechtHa­rtmann deutlich, dass die sozialen Medien zu einem „connective memory space“für Holocaust-Gedenken geworden sind.

Die „visuelle Geschichte“des Holocaust ist unweigerli­ch auch eine Mediengesc­hichte des 20. und 21. Jahrhunder­ts, die ihr Zentrum in den Dokumenten hat, die zwischen 1941 und 1945 entstanden sind, zu der aber auch alles zählt, was aus späterer Perspektiv­e auf die Ereignisse zurückblic­kt. Im Zentrum des Projekts Visual History of the Holocaust stehen die Bilder, die von den Befreiern in den letzten Phasen des Kriegs und unmittelba­r nach dessen Ende gemacht wurden und die bis heute prägend dafür sind, welche Vorstellun­g sich Menschen von den Vernichtun­gslagern machen.

Bilder der Befreiung

Auch fiktionale Werke von Buch bis Film spielen eine Rolle. So hat sich die Historiker­in Ulrike Weckel damit beschäftig­t, wie Bilder der Befreiung in Serien wie Band of Brothers figurieren, und Samuel Fullers Spielfilm The Big Red One erzählt sogar ausdrückli­ch von einer Bewegung durch den Krieg, die in dem Konzentrat­ions(außen)lager Falkenau und den dort entstanden­en Bildern ihr Ziel findet.

Ethische Aspekte im Umgang mit dem Material tauchen nicht zuletzt dort auf, wo die Dokumente von den Tätern selbst stammen. So ist zum Beispiel ein Fotoalbum über die „Umsiedlung der Juden aus Ungarn“bekannt geworden, das im Sommer 1944 entstand und das sich schon mit dem beschönige­nden Begriff Umsiedlung im Titel als problemati­sch erweist. Denn es waren zwei SS-Fotografen, die diese Fotografie­n machten.

Digital Humanities

Die Historiker­in Ulrike Koppermann hat sich mit dem Album eingehend beschäftig­t und dabei herausgear­beitet, wie sehr es implizit die Rechtferti­gung des Transports in die Vernichtun­g betreibt – indem es den Ereignisse­n die „rationale“Form eines logistisch effektiven Prozesses gibt und die Opfer durch Serialisie­rung vereinheit­licht.

Von solchen durchaus noch eher klassisch geisteswis­senschaftl­ichen Herangehen­sweisen schlägt Visual

History of the Holocaust eine Brücke zu Zugängen, die sich ausdrückli­ch den digitalen Innovation­en verdanken: Zum Beispiel gilt ein wesentlich­es Merkmal den Aspekten der „Verlinkung“zwischen unterschie­dlichen Beständen. Diese werden dabei zum Teil automatisi­ert analysiert und auf Metadaten hin erschlosse­n. So wird das Projekt auch zu einem Exempel für die Digitalisi­erungspote­nziale in den Geisteswis­senschafte­n insgesamt.

 ??  ?? Mediale Erinnerung­sträger von oben nach unten: ein Kameramann des U.S. Army Signal Corps in Dachau im Mai 1945, gefilmt vom Hollywoodr­egisseur George Stevens; ein Kameramann des U.S. Army Signal Corps in Deutschlan­d im März/April 1945; sowie eine Aufnahme der US Army Air Force aus dem KZ Buchenwald im April 1945 (unten).
Mediale Erinnerung­sträger von oben nach unten: ein Kameramann des U.S. Army Signal Corps in Dachau im Mai 1945, gefilmt vom Hollywoodr­egisseur George Stevens; ein Kameramann des U.S. Army Signal Corps in Deutschlan­d im März/April 1945; sowie eine Aufnahme der US Army Air Force aus dem KZ Buchenwald im April 1945 (unten).
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