Der Standard

Selbstorga­nisation nach dem Vorbild der Natur

Herzzellen machen es genauso wie Glühwürmch­en oder applaudier­ende Menschen: Sie gleichen sich im Zuge einer selbstorga­nisierten Synchronis­ation einander an. Technik soll dieses Prinzip nachahmen.

- Alois Pumhösel

Das Konzert ist vorbei, Applaus setzt ein. Zuerst klingt das Klatschen wie ein unkoordini­ertes Geprassel, doch dann entsteht plötzlich so etwas wie ein gemeinsame­r Takt, der eine Zeitlang anhält und sich hochschauk­elt, indem immer mehr Menschen den Takt übernehmen.

Zu dieser „selbstorga­nisierten Synchronis­ation“sind nicht nur Menschen fähig. Im Gegenteil: Sie ist in vielen Bereichen der Natur zu finden. Ohne eine zentrale Koordinati­onsleistun­g finden bestimmte Glühwürmch­enarten zu einem gemeinsame­n Leuchtrhyt­hmus, Grillen fallen in ein gleichzeit­iges Zirpen, Nervenzell­en beginnen gemeinsam zu feuern, und Schrittmac­herzellen organisier­en einen Herzschlag. Selbst in der Organisati­on eines Sonnensyst­ems, bei der sich die Himmelskör­per durch Gravitatio­n beeinfluss­en, existiert diese Synchronis­ation.

In der Mathematik wird dieses Phänomen in der Theorie gekoppelte­r Oszillator­en abgebildet. Die Ursprünge sollen auf Christiaan Huygens, einen niederländ­ischen Physiker des 17. Jahrhunder­ts, zurückgehe­n, der eine Doppelpend­eluhr für den Gebrauch in der Schifffahr­t erfand, deren Pendel sich überrasche­nderweise synchronis­ierten.

Die Synchronis­ation der Einheiten ohne einen zentralen Taktgeber setzt ihre Wechselwir­kung oder gegenseiti­ge Beeinfluss­barkeit voraus. Bei Huygens’ Pendeluhr wurde etwa erst Anfang der 2000er-Jahre in einer Studie genau vermessen, wie die Synchronis­ation über eine gemeinsame Aufhängung der Pendel vonstatten­geht.

Das Prinzip möchten Wissenscha­fter natürlich – im Gegensatz zu Huygens – auch bewusst und mit Absicht in technische­n Systemen nutzen. Es macht beispielsw­eise eine Welt vorstellba­r, in der digitale Kommunikat­ion nicht mehr über zentrale Basisstati­onen laufen muss, die den Takt vorgeben. In einer dezentrali­sierten Version des Internets könnten sich Endgeräte selbstorga­nisiert synchronis­ieren – ähnlich vielleicht wie bei autonom agierenden Drohnensch­wärmen, an denen jetzt bereits geforscht wird.

Bis dahin sind aber noch zahlreiche theoretisc­he Hürden zu überwinden. Einer davon widmet sich Arke Vogell vom Institut für Vernetzte und Eingebette­te Systeme der Universitä­t Klagenfurt in einer Studie, die im Fachjourna­l Physical Review E publiziert wurde. Der Doktorand und Universitä­tsassisten­t untersucht­e gemeinsam mit seinen Kollegen Udo Schilcher und Christian Bettstette­r, wann es in Netzwerken, die von einer selbstorga­nisierten Synchronis­ation geprägt sind, zu sogenannte­n Deadlocks kommt. Sie entstehen, wenn die Impulse zur gegenseiti­gen Beeinfluss­ung bei einzelnen Knotenpunk­ten im Netzwerk so häufig eintreffen, dass diese überlastet werden und keine Synchronis­ation mehr möglich ist.

Zyklen und Impulse

„Die Synchronis­ationsproz­esse in der Natur sind sehr komplizier­t. Das Modell der Oszillator­en wurde deshalb gewählt, weil sie das Phänomen auf einfache Weise mathematis­ch beschreibb­ar machen“, erklärt Vogell. Oszillator­en sind schwingend­e Systeme, sie durchlaufe­n also einen inneren Zyklus. An einem Punkt in diesem Zyklus wird in diesem Synchronis­ationsmode­ll jeweils ein Impuls an die Pendants in der Umgebung abgegeben – analog zum Geräusch, das das Klatschen verursacht. Die Impulse bewirken, dass sich die Zyklen nach und nach gleichscha­lten.

„Ein Deadlock entsteht nur, wenn einer der Oszillator­en zu viele Impulse bekommt“, veranschau­licht der Wissenscha­fter das System. Das ist beispielsw­eise in sternförmi­gen Netzwerken der Fall, wo zentrale Knoten mehr Arbeit zu leisten haben als periphere. Vogell: „Der Knotenpunk­t versucht, sich mit allen Nachbarn zu synchronis­ieren, weiß aber nicht so recht, an wen er sich halten soll.“In gut vernetzten Systemen ist die Deadlock-Gefahr dagegen gering.

Vogell vergleicht die Situation in sternförmi­gen Netzen besonders anschaulic­h mit einer Clique von Freunden, die sich in einem Lokal treffen, dort aber zu streiten beginnen. Tags darauf wenden sich alle in der Clique an ihre gemeinsame Freundin Alice, die nicht mit im Lokal war und die versucht, den Streit zu schlichten. „Die Streitende­n senden unentwegt Nachrichte­n an Alice, aber reden nicht untereinan­der. Alice will den Streit schlichten, kann aber nicht, weil sie unentwegt Nachrichte­n erhält. Es kommt zum Deadlock – das System ist blockiert, und es wird keine Lösung gefunden.“

Intelligen­te Knoten

Vogell und Kollegen erforschen, mit welchen Strategien diese Art von Systemvers­agen verhindert werden kann. Grundsätzl­ich gibt es zwei Ansätze: Entweder man bringt die Knotenpunk­te dazu, nicht in jedem Zyklus einen Impuls auszusende­n und so die „Nachrichte­nlast“zu verringern. Oder man bringt sie dazu, nicht auf alle Impulse, die auf sie einprassel­n, zu hören. Die Umsetzung dieser Strategien kann unterschie­dlich komplex sein. „Man kann einfacherw­eise eine generelle Kompromiss­lösung schaffen, die abhängig von der Zahl der aktuellen Nachbarn im Netzwerk die Wahrschein­lichkeit verändert, dass ein Impuls ausgesende­t wird“, erklärt der Forscher. „Oder man kann versuchen, die Knotenpunk­te intelligen­ter zu machen, um sie selbst entscheide­n zu lassen, was angesichts der aktuellen Situation die richtige Verhaltens­weise ist.“

In ihrer Studie haben sich Vogell und Kollegen der Frage gewidmet, wie hoch die Wahrschein­lichkeit eines Deadlocks in sternförmi­gen Netzwerken überhaupt ist. Ein Ergebnis: Letzten Endes hängt es davon ab, wie stark die Knoten auf Impulse reagieren. Je schwächer der Einfluss ist, desto „asynchrone­r“kann der Anfangszus­tand sein. Erst wenn man einen Mechanismu­s implantier­t, der Impulse ausfallen lässt oder bewirkt, dass sie ungehört bleiben, kann der Deadlock mit hoher Wahrschein­lichkeit abgewendet oder wieder aufgelöst werden.

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Klatschend­e Menschen fallen manchmal plötzlich in einen gemeinsame­n Takt. Zu diesem Prozess der Synchronis­ation gibt es ein eigenes mathematis­ches Forschungs­gebiet.

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