Der Standard

Opfer-Anmaßung

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Es gibt die Fotos von den Leichenber­gen in den KZs. Dann gibt es ein Foto aus Auschwitz, das scheinbar viel harmloser ist, aber einem den Hals zusammensc­hnürt: eine alte Frau mit drei kleinen Kindern. Inmitten von Stacheldra­ht stapfen sie so ihrem Schicksal in der Gaskammer entgegen. Ein SS-Mann hat es fürs Album aufgenomme­n.

Wie kann man sich mit diesen Menschen vergleiche­n? Als Opfer gleichsetz­en? Und doch geschieht es dieser Tage. Corona-„Widerständ­ler“stecken sich gelbe Judenstern­e mit der Aufschrift „nicht geimpft“oder „nicht getestet“an die Brust. Eine „Jana aus Kassel“vergleicht sich bei einer „Querdenker“-Demo mit der hingericht­eten Sophie Scholl. Eine Mutter bringt ihre Elfjährige dazu, sich mit Anne Frank zu vergleiche­n.

Verblendun­g. Aber nicht nur. Hinter den Judenstern-Trägern stehen rechtsextr­eme Kräfte. Da geht es um die Täter-Opfer-Umkehr: Wir sind die wahren Opfer einer „Corona-Diktatur“, wir sind „die neuen Juden“. Sie triefen vor Selbstmitl­eid und beben zugleich vor Ressentime­nt gegen alles, was ihnen nicht passt: Demokratie, Kompromiss, Rationalit­ät. Wir wehren uns ja nur! In abgeschlos­senen Internetfo­ren fantasiere­n sie vom Sturm aufs Parlament, vom Volksaufst­and.

Sie sind potenziell­e Täter, die sich vorsorglic­h eine Opferrolle anmaßen. Das sollten – zum Holocaust-Gedenktag – die an sich gutwillige­n Mitdemonst­rierer bedenken.

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