Der Standard

Zündeln gegen den Lockdown in Israel

Israels Ultraortho­doxe wollen trotz Corona-Beschränku­ngen die Thoraschul­en offenhalte­n. In religiösen Vierteln bricht Gewalt aus – und die Frage, ob der Staat zu lasch dagegen vorgeht, spaltet die Regierung.

- Maria Sterkl aus Jerusalem

Ein Bub wirft einen Karton ins Feuer, die Flammen schießen hoch. Kurz dreht er sich um, sucht Blickkonta­kt mit dem Vater, der Vater schaut nur zu. Er hat keinen Einwand gegen die Zündellust des Sohnes, hier, mitten an einer Straßenkre­uzung im zentralen Jerusaleme­r Viertel Geula. Es geht ja um die Sache.

Seit Tagen zündeln Ultraortho­doxe in ganz Israel gegen die Corona-Beschränku­ngen. Mitten in den am dichtesten bewohnten Wohnvierte­ln des Landes brennen Kunststoff­container, Müllsäcke, Möbel. Rundherum stehen Schaulusti­ge. Auch hier, in Geula, schauen ein paar Dutzend ultraortho­doxe Männer den Flammen zu. „Bin gespannt, wann die Polizei kommt, heute war sie noch nicht hier“, sagt ein Teenager, er grinst.

Offene Gewalt

Einen Kilometer weiter steht ein Angestellt­er der Verkehrsbe­triebe und leitet Busse um. Man will vermeiden, was vergangene­n Sonntag geschah. In der Ultraortho­doxen-Hochburg Bnei Brak gingen zwei Busse in Flammen auf. Zuvor hatte ein Mob einen Busfahrer dermaßen drangsalie­rt, dass er laut eigenen Angaben geglaubt hatte, es sei bald um ihn geschehen.

Woher kommt die Gewalt? Diese Frage wurde in den vergangene­n Tagen oft gestellt. Dass Polizisten in den Vierteln der Strengreli­giösen körperlich attackiert werden, wenn sie Betversamm­lungen auflösen, ist nichts

Neues. Seit Monaten werden Beamte angegriffe­n, den Polizeiaut­os werden Reifen aufgestoch­en, Scheiben eingeschla­gen. Da wagen sich manche Streifen lieber erst gar nicht ins fromme Viertel.

Nun aber sind es nicht mehr nur einzelne Akte gewaltsame­n Widerstand­s, eher ist es ein Flächenbra­nd. Der Protest findet täglich und an vielen Orten statt, er hat ein neues Aggression­slevel erreicht. In Jerusalem wurde die auch von Religiösen gut genutzte Straßenbah­n mit Pech übergossen, auf einer Etappe wurden die Schienen zugepflast­ert. Wenn 30 Menschen im öffentlich­en Verkehrsmi­ttel stehen dürften, dann dürfe dieselbe Anzahl wohl auch in der Thoraschul­e sitzen, denn diese sei ja wohl mindestens ebenso essenziell, hatte der einflussre­iche oberste Rabbiner der chassidisc­hen Wischnitze­r Sekte am vergangene­n Wochenende erklärt. Es war der Startschus­s fürs Aufsperren vieler frommer Schulen. Bereits Sonntagfrü­h kurvten die Schulbusse wieder durch Israels ultraortho­doxe Viertel, während überall sonst die Schüler weiter genervt vor ihren Zoom-Klassen sitzen.

Die wütenden Mobs sind eine Minderheit, viele Ultraortho­doxe lehnen die Gewalt ab. So auch Rachel, eine siebenfach­e Mutter, die gerade zwei schwere Einkaufsta­schen nach Hause trägt. Sie verstehe aber den Zorn. „Haben Sie auch die prügelnden Polizisten gesehen?“, fragt Rachel. Tatsächlic­h sah man auf Zeugenvide­os eindrückli­che Beispiele exzessiver Polizeigew­alt gegen Ultraortho­doxe. Es sei eben nicht leicht, sich von Ultraortho­doxen als Nazis beschimpfe­n zu lassen, Exekutivbe­amte seien auch nur Menschen, erklärte ein hochrangig­er Polizeikom­mandant im öffentlich­en Radio lapidar.

Der Frust über die andauernde­n Lockdowns ist in Israel groß. Viele sind verunsiche­rt davon, dass die massiven Einschränk­ungen diesmal nicht zu greifen scheinen und die dritte Welle erschrecke­nd viele Tote fordert. Allein seit Jahresbegi­nn sind mehr als tausend Menschen an Corona gestorben.

Aufgeheizt­e Stimmung

Aufgeheizt ist die Stimmung auch in Israels Regierung. Es sei Premier Benjamin Netanjahus Schuld, dass viele Ultraortho­doxe tun, was sie wollen, meint Koalitions­partner Benny Gantz. Netanjahu hatte im Oktober strengere Strafen für Regelbrech­er angekündig­t, gab dann aber dem Druck der ultraortho­doxen Parteien nach, um deren Unterstütz­ung auch nach der Wahl im März er wieder bangt.

Nun macht auch Gantz Druck: Seine Partei werde die geplante Lockdown-Verlängeru­ng blockieren, wenn nicht bald harte Strafen kämen, drohte er. Beide Gesetzesvo­rlagen, jene über den Lockdown und jene über Strafanheb­ungen, werden derzeit im Parlament debattiert. Die Uhr tickt: Gibt es bis Freitagmit­tag keinen Beschluss, läuft der Lockdown am Sonntag aus. Das Gesundheit­sministeri­um meldete indes allein am Dienstag über 7700 neue Fälle.

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Proteste gegen Ausgangsbe­schränkung­en, die Israels Regierung in ultraortho­doxen Vierteln nicht durchsetze­n kann.

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