Äthiopiens angeblich „beendeter Krieg“
Kämpfe und Hinterhalte, sexuelle Gewalt sowie Hunger und Durst als Waffe – die Berichte aus der äthiopischen Provinz Tigray lassen nichts vom angekündigten Frieden erahnen.
Die Nachrichten waren überraschend, aber sie waren gut: Äthiopiens Regierung verkündete damals, am 29. November 2020, die schnelle und relativ unblutige Einnahme der Hauptstadt Mekelle in der nördlichen Region Tigray. Der Krieg gegen die regionale Armee der Tigray-Befreiungsfront TPLF sei de facto vorüber. Heute, zwei Monate später, ist davon aber noch immer nichts zu spüren.
Ein aktueller „Snapshot“des UNAmts für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA) zeichnet ein furchtbares Bild: Rund 500.000 der etwa sieben Millionen Menschen in Tigray seien noch immer innerhalb der Region auf der Flucht. 60.000 hielten sich im Sudan auf. Etwa vier Millionen Menschen brauchten Hungerhilfe, die aber kaum in die Region gelangt.
Es gebe „schwere Menschenrechtsverletzungen, willkürliche Tötungen, sexuelle Gewalt, Zwangsrekrutierungen und ethnische Vertreibungen“, zählt der Report auf. Und natürlich: Auch die Kämpfe sind nicht vorbei, es gebe „Beschuss, bewaffnete Zusammenstöße und Tötungen aus dem Hinterhalt“.
Der Streit reicht weit zurück: Die TPLF, einst eine erfolgreiche Rebellenarmee, hatte die äthiopische Regierung seit Beginn der 1990er-Jahre weitgehend kontrolliert. Dies gelang ihr, obwohl das Volk der Tigray nur rund sechs Prozent der äthiopischen Bevölkerung ausmacht. Erst die Ernennung Abiy Ahmeds zum Premier bereitete dieser Dominanz 2018 ein Ende. Der Sohn eines muslimischen Oromo und einer christlichen Amharin entstammt den beiden größten Volksgruppen des Landes (je rund 30 Prozent). Zudem schloss Abyi Frieden mit dem benachbarten Eritrea, mit dem die TPLF in tiefer Feindschaft liegt.
Der Krieg zwischen der Regionalarmee und den äthiopischen Truppen begann im Schatten der USWahl Anfang November 2020. Und er blieb im Schatten: Internationale Beobachter dürfen noch immer
nicht in die Region einreisen, Hilfsorganisationen waren bis vor kurzem weitgehend ausgeschlossen. Journalisten dürfen nach Tigray nur dann, wenn sie für die äthiopischen Regierungsmedien arbeiten. Und natürlich: Handy- und Internetverbindungen nach Tigray sind seit Kriegsbeginn ebenfalls weitgehend unterbrochen.
Nicht geschlagen
Die Meldungslage bleibt daher bruchstückhaft. Klar scheint, dass die äthiopische Armee Mekelle sowie größere Städte kontrolliert. Klar scheint aber auch: Die TPLF ist nicht geschlagen. Sie setzt auf Guerillataktik, die sie auch in den 1980ern gegen den Diktator Mengistu Haile Mariam eingesetzt hatte.
Und klar scheint zudem: Die Grausamkeiten nehmen kein Ende. Schon zu Beginn des Krieges hatten beide Seiten einander Massaker vorgeworfen. Ein mittlerweile offenes Geheimnis ist auch der Einsatz des Militärs von Eritrea in der Region.
Sowohl Abyi als auch Isaias Afewerki, seit 1993 totalitär regierender Präsident von Eritrea, streiten diesen zwar ab – sowohl die USA als auch die EU, Großbritannien und die Uno wollen aber Beweise dafür haben. Auch einzelne äthiopische Generäle sprechen von eritreischen Einsätzen in der Region.
Geflüchtete machen zudem immer wieder die Truppen aus Eritrea für Verbrechen verantwortlich. Afewerki soll nach Berichten von Diaspora-Medien eine künftige engere Union mit Äthiopien in Aussicht gestellt haben. Eritrea hatte erst 1993 die Unabhängigkeit von Addis Abeba erlangt. Beide, Eritrea und Äthiopien, erhoffen sich einen besseren Zugang zum Handel im Roten Meer – und mit ihnen die Vereinigten Arabischen Emirate, die beide Regierungen unterstützen.
Der Vielvölkerstaat Äthiopien hatte bisher als Stabilitätsanker in Ostafrika gegolten: Mehrere Konflikte fanden nur wegen der Mediationsbemühungen aus Addis Abeba ein Ende, dort befindet sich auch der Sitz der Afrikanischen Union. Nun aber wird die innere Stabilität des Landes infrage gestellt. Gleich in mehreren weiteren Landesteilen greifen separatistische Gruppen zu den Waffen. In der westlichen Region Benishangul-Gumuz verübten Milizen ein Massaker, woraufhin die Zentralregierung auch dorthin Soldaten entsandte. Und das Streben der Oromo und Amharen nach mehr Kontrolle im Staat ist ebenfalls ein ungelöstes Problem.
Im Sommer sollen Wahlen nachgeholt werden, die Abyi ein Jahr zuvor wegen Corona verschieben ließ – was für Spannungen sorgt. Abyi hatte im November 2019 die Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker (EPRDF) aufgelöst, die aus ethnischen Parteien zusammengesetzt war. Er ersetzte sie durch eine panäthiopische „Wohlstandspartei“– ein Projekt der Einigung, das zur Zersplitterung des bevölkerungsmäßig zweitgrößten Landes in Afrika beitragen könnte.