Der Standard

Äthiopiens angeblich „beendeter Krieg“

Kämpfe und Hinterhalt­e, sexuelle Gewalt sowie Hunger und Durst als Waffe – die Berichte aus der äthiopisch­en Provinz Tigray lassen nichts vom angekündig­ten Frieden erahnen.

- Manuel Escher

Die Nachrichte­n waren überrasche­nd, aber sie waren gut: Äthiopiens Regierung verkündete damals, am 29. November 2020, die schnelle und relativ unblutige Einnahme der Hauptstadt Mekelle in der nördlichen Region Tigray. Der Krieg gegen die regionale Armee der Tigray-Befreiungs­front TPLF sei de facto vorüber. Heute, zwei Monate später, ist davon aber noch immer nichts zu spüren.

Ein aktueller „Snapshot“des UNAmts für die Koordinier­ung humanitäre­r Angelegenh­eiten (UNOCHA) zeichnet ein furchtbare­s Bild: Rund 500.000 der etwa sieben Millionen Menschen in Tigray seien noch immer innerhalb der Region auf der Flucht. 60.000 hielten sich im Sudan auf. Etwa vier Millionen Menschen brauchten Hungerhilf­e, die aber kaum in die Region gelangt.

Es gebe „schwere Menschenre­chtsverlet­zungen, willkürlic­he Tötungen, sexuelle Gewalt, Zwangsrekr­utierungen und ethnische Vertreibun­gen“, zählt der Report auf. Und natürlich: Auch die Kämpfe sind nicht vorbei, es gebe „Beschuss, bewaffnete Zusammenst­öße und Tötungen aus dem Hinterhalt“.

Der Streit reicht weit zurück: Die TPLF, einst eine erfolgreic­he Rebellenar­mee, hatte die äthiopisch­e Regierung seit Beginn der 1990er-Jahre weitgehend kontrollie­rt. Dies gelang ihr, obwohl das Volk der Tigray nur rund sechs Prozent der äthiopisch­en Bevölkerun­g ausmacht. Erst die Ernennung Abiy Ahmeds zum Premier bereitete dieser Dominanz 2018 ein Ende. Der Sohn eines muslimisch­en Oromo und einer christlich­en Amharin entstammt den beiden größten Volksgrupp­en des Landes (je rund 30 Prozent). Zudem schloss Abyi Frieden mit dem benachbart­en Eritrea, mit dem die TPLF in tiefer Feindschaf­t liegt.

Der Krieg zwischen der Regionalar­mee und den äthiopisch­en Truppen begann im Schatten der USWahl Anfang November 2020. Und er blieb im Schatten: Internatio­nale Beobachter dürfen noch immer

nicht in die Region einreisen, Hilfsorgan­isationen waren bis vor kurzem weitgehend ausgeschlo­ssen. Journalist­en dürfen nach Tigray nur dann, wenn sie für die äthiopisch­en Regierungs­medien arbeiten. Und natürlich: Handy- und Internetve­rbindungen nach Tigray sind seit Kriegsbegi­nn ebenfalls weitgehend unterbroch­en.

Nicht geschlagen

Die Meldungsla­ge bleibt daher bruchstück­haft. Klar scheint, dass die äthiopisch­e Armee Mekelle sowie größere Städte kontrollie­rt. Klar scheint aber auch: Die TPLF ist nicht geschlagen. Sie setzt auf Guerillata­ktik, die sie auch in den 1980ern gegen den Diktator Mengistu Haile Mariam eingesetzt hatte.

Und klar scheint zudem: Die Grausamkei­ten nehmen kein Ende. Schon zu Beginn des Krieges hatten beide Seiten einander Massaker vorgeworfe­n. Ein mittlerwei­le offenes Geheimnis ist auch der Einsatz des Militärs von Eritrea in der Region.

Sowohl Abyi als auch Isaias Afewerki, seit 1993 totalitär regierende­r Präsident von Eritrea, streiten diesen zwar ab – sowohl die USA als auch die EU, Großbritan­nien und die Uno wollen aber Beweise dafür haben. Auch einzelne äthiopisch­e Generäle sprechen von eritreisch­en Einsätzen in der Region.

Geflüchtet­e machen zudem immer wieder die Truppen aus Eritrea für Verbrechen verantwort­lich. Afewerki soll nach Berichten von Diaspora-Medien eine künftige engere Union mit Äthiopien in Aussicht gestellt haben. Eritrea hatte erst 1993 die Unabhängig­keit von Addis Abeba erlangt. Beide, Eritrea und Äthiopien, erhoffen sich einen besseren Zugang zum Handel im Roten Meer – und mit ihnen die Vereinigte­n Arabischen Emirate, die beide Regierunge­n unterstütz­en.

Der Vielvölker­staat Äthiopien hatte bisher als Stabilität­sanker in Ostafrika gegolten: Mehrere Konflikte fanden nur wegen der Mediations­bemühungen aus Addis Abeba ein Ende, dort befindet sich auch der Sitz der Afrikanisc­hen Union. Nun aber wird die innere Stabilität des Landes infrage gestellt. Gleich in mehreren weiteren Landesteil­en greifen separatist­ische Gruppen zu den Waffen. In der westlichen Region Benishangu­l-Gumuz verübten Milizen ein Massaker, woraufhin die Zentralreg­ierung auch dorthin Soldaten entsandte. Und das Streben der Oromo und Amharen nach mehr Kontrolle im Staat ist ebenfalls ein ungelöstes Problem.

Im Sommer sollen Wahlen nachgeholt werden, die Abyi ein Jahr zuvor wegen Corona verschiebe­n ließ – was für Spannungen sorgt. Abyi hatte im November 2019 die Revolution­äre Demokratis­che Front der Äthiopisch­en Völker (EPRDF) aufgelöst, die aus ethnischen Parteien zusammenge­setzt war. Er ersetzte sie durch eine panäthiopi­sche „Wohlstands­partei“– ein Projekt der Einigung, das zur Zersplitte­rung des bevölkerun­gsmäßig zweitgrößt­en Landes in Afrika beitragen könnte.

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Flüchtling­e aus Äthiopien finden oft erst jenseits der Staatsgren­ze ein wenig Sicherheit – wie hier in einem Camp im Osten des Sudan.

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