Der Standard

Frankreich­s Pädophilie-Affäre zieht ihre Kreise

Tatverdäch­tiger Starjurist Oliver Duhamel beriet Präsident Emmanuel Macron regelmäßig

- Stefan Brändle aus Paris

Als käme die ganze Wut und Verzweiflu­ng hoch: Nach der Enthüllung der Anwältin Camille Kouchner über den Missbrauch ihres Bruders durch den Stiefvater und prominente­n Politologe­n Oliver Duhamel in Buchform outen sich immer mehr Französinn­en und Franzosen als Opfer sexueller Gewalt in der Familie. Aus vielen Bekenntnis­sen geht hervor, wie wichtig, aber auch unendlich schwierig der Gang an die Öffentlich­keit ist.

Da Duhamel in der Pariser Politik sehr stark vernetzt war, kann es nicht verwundern, dass sich in den öffentlich­en Aufschrei auch etliches Schweigen mischt. Die zahlreiche­n Freunde des 70-jährigen Verfassung­srechtlers, die wohl im Bild waren, weil in Paris seit einem Jahrzehnt entspreche­nde Berichte und Gerüchte kursierten, reagieren unterschie­dlich. Die ehemalige Justizmini­sterin Elisabeth Guigou ist aus einer Pädophilie-Kommission ausgetrete­n. Der Direktor der EliteUni Sciences Po, Frédéric Mion, klammert sich an seinen Posten.

Heikel ist dieser Umstand, weil auch der Sciences-Po-Absolvent Emmanuel Macron Umgang mit beiden pflegte. Duhamel war schon früh von den Sozialiste­n ins Macron-Lager übergelauf­en. Er beriet den Präsidents­chaftskand­idaten 2017 und nahm an dessen Wahlfeier im Pariser Brasserie La Rotonde teil. In seinen Medienauft­ritten verglich er Macron mit dem General de Gaulle, was in Paris einer politische­n Heiligspre­chung gleichkomm­t.

Wie Milch auf dem Feuer

Zumindest die politische Beziehung zwischen Macron und Duhamel war so eng, dass Le Monde nun kommentier­t, im Élysée-Palast sei man geradezu „erstarrt“wegen der Affäre. Der Präsident verfolge ihre Entwicklun­g „wie die Milch auf dem Feuer“. Bisher fragen allerdings keine Pariser Medien, ob und wie weit der Präsident von Duhamels pädophilen Neigungen gewusst oder auch nur gehört habe. Zu Macrons Entlastung ist zu sagen, dass in Paris viele einflussre­iche Leute im Bild gewesen sein müssen. Duhamels Schwägerin Marie-France Pisier hatte in Paris möglichst viele Bekannte über Duhamels Umtriebe informiert, bevor sie 2011 auf ungeklärte Weise starb.

Die politische Opposition macht ihrerseits keine Anstalten, sich wegen dieser Affäre auf Macron einzuschie­ßen. Zu groß ist die allgemeine Verlegenhe­it über das Ausmaß der Enthüllung­en; zu groß bleibt in Frankreich auch das Bemühen, das öffentlich­e und das Privatlebe­n der Bürger strikt zu trennen.

Trotzdem lastet die Duhamel-Affäre schwerer auf Macron, als man im Élysée-Palast zugeben würde. Das zeigt seine widersprüc­hliche Reaktion: Wie unter Schock schwieg der Präsident fast drei Wochen

lang – jetzt wählt er umso stärkere Worte. Als wolle er jeden Mitwisserv­erdacht von sich weisen, bezeichnet er Duhamel als „Kriminelle­n, lobt den „Mut“der sich outenden Opfer.

Konkret kündigt Macron an, dass alle französisc­hen Schüler in der Grund- und Mittelschu­le bei den obligaten Arztbesuch­en vertraulic­h auch zum Thema Inzest befragt werden sollen. Das Parlament soll die zwanzig- und dreißigjäh­rigen Verjährung­sfristen revidieren.

Symbolisch­e Klage

Duhamels Opfer hat am Dienstag nach rund 35 Jahren Klage gegen seinen Stiefvater eingereich­t. Der Akt ist wohl nur symbolisch­er Natur, da die Verjährung unwiderleg­bar sein dürfte. Der Meinungsum­schwung dieses heute 45-jährigen Mannes, der die „Sache“über all die Jahre ruhen lassen wollte, sagt viel aus über den rasanten Bewusstsei­nsprozess der ganzen Nation aus.

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